Ein Theater setzt Segel

Potsdams geschichtssattes Image schien lange resistent gegen Neues. Deshalb ist der Neubau des Hans Otto Theater eine Sensation, nicht nur durch die Architektur von Gottfried Böhm, sondern weil der Standort der jungen Szene gehört

Handläufe aus Schienen und offenem Stahl in der Konstruktion schließen an die Industriearchitektur an

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Es ist in Potsdam derzeit viel von Synergien die Rede. Das Wort aus dem Vokabular der so genannten New Economy und des modernen Stadtmanagements steht für die Hoffnungen der kulturpolitischen Potsdamer Szene, die sich anschickt, die Stadt über das historische Erbe der preußischen Schlösser und Gärten hinauszudenken. Seit die muffige 1.000-Jahr-Feier in den 1990er-Jahren Potsdam in ein rückwärts gewandtes Debakel führte, reklamieren die Bürgerschaft und Kulturinstitutionen ein vielfältigeres und aktuelleres Kultur- und Kunstleben für die Stadt. Der Reiz der musealen und barocken Kulturlandschaft, das weiß man, ist nicht mächtig genug, im Wettbewerb um ein tragfähiges Image für die Zukunft – darum das Zauberwort von den Synergien aus alter und neuester Kultur, Tourismus und kreativen Wirtschaftszweigen.

Die Eröffnung des Hans Otto Theaters am 22. September 2006 spielt in der Dramaturgie der Image-Erweiterung derzeit die Hauptrolle. Die Erwartungen sind riesig, hat die Stadt auf den Theaterneubau doch 60 Jahre gewartet. Jann Jakobs, westimportierter SPD-Bürgermeister und erster Akteur für Potsdamer Zukunftsvisionen, schwärmt seit Monaten nur noch in Superlativen. „Der Neubau des Hans Otto Theaters ist das derzeit größte Potsdamer Kulturprojekt und sucht als Kulturbauvorhaben auch in den neuen Bundesländern seinesgleichen.“ Nach den Plänen des Architekten Gottfried Böhm (86), „dem bisher einzigen deutschen Pritzker-Preisträger“, wie Jakobs stolz bemerkt, begann der Bau 2003 in der Schiffbauergasse, unmittelbar gegenüber dem Park Babelsberg, Teil des Unesco-Weltkulturerbe.

Das Theaterprojekt, das Böhm an der Spitze der Halbinsel in Form eines Tortenstücks mit einem Saal für maximal 480 Zuschauer unter weithin sichtbaren, auskragenden, pagodenähnlichen roten Dächern baute, bildet für die Stadt sicher den Höhepunkt in ihrem „Jahr der Architektur“. Mit der Konstruktion der dünnen geschwungenen Dächer bewegte sich der berühmte Kölner Kirchenbauer im Grenzbereich des technisch Machbaren. Eine Leistung ist zudem, dass das Theater planmäßig und im Kostenrahmen von 26,5 Millionen Euro fertiggestellt wurde .

Mut und ein kluges Händchen haben die Potsdamer Stadtoberen aber nicht nur in der Wahl des Architekten, sondern auch bei der Entscheidung des für ein Stadttheater ungewöhnlich dezentralen Standortes bewiesen. Die Schiffbauergasse, auf einer Halbinsel am Tiefen See gelegen, ist weder zentral, noch war der Ort besonders einfach zu haben. Frühere militärische Nutzungen prägten den Ort wie etwa Karl Friedrich Schinkels Reithalle auf dem ehemaligen Garnisonholzhof. Dazu kamen im Laufe des 19. Jahrhunderts zusätzliche Pferdeställe und militärische Funktionsgebäude, eine backsteinrote Kaserne und das für die Uniformen nötige Waschhaus. Nach 1945 besetzten sowjetische Streitkräfte die Kasernengebäude, die später an die Nationale Volksarmee und die Grenztruppen der DDR übergeben wurden. Das Gaswerk mit einem Gasometer und andere Industrie- und Gewerbebauten hatten da zwar schon ihren Dienst eingestellt, hinterließen aber ebenso wie das Militär große Mengen an mit Umweltgiften verseuchter Erde, die teuer zu entsorgen waren.

Zugleich lastete auf der Potsdamer Stadtverwaltung der Druck, nach 60 Jahren Provisorium für das Hans Otto Theater endlich ein Grundstück von Dauer zu finden. 1945 war das Schauspielhaus Am Kanal zerbombt worden. Die Künstler siedelten in eine Tanzgaststätte über, immer in Spannung gehalten mit Neubauplänen. 41 Standortvarianten, darunter der SED-Plan von 1971 am Alten Markt, auf den Grundmauern des Stadtschlosses, zu bauen wurden durchgespielt. Schließlich stand ein Rohbau, der nach dem Fall der Mauer aber als hässlich verschrien war und abgerissen wurde. Das Theater zog in eine metallene Ersatzhalle, „Die Blechbüchse“, in der Innenstadt. Große Freude bereitete dies den Potsdamern nicht, zu Premieren fuhr man sowieso nach Berlin.

Entscheidend für die jetzige Adresse Schiffbauergasse ist, dass 1991 Künstler und eine Freie Szene das historische Fabrik- und Militärgelände erst besetzt und danach erfolgreich zu bespielen begannen. Das „Waschhaus“ sorgte mit Ausstellungen, Live-Konzerten und Performances für Furore. 1994 zog die Fabrik Potsdam mit ihrem engagierten Tanzprojekten in das „Fischhaus“, das bis dato als Studio verwendet wurde. Seit 1998 wird die „Reithalle“ durch das Kinder- und Jugendtheater des Hans Otto Theaters bespielt. 150.000 Besucher und mehr werden jährlich bei Veranstaltungen in der Schiffbauergasse gezählt.

Potsdams neuer Kulturstandort ist also schon eingeführt als Magnet für die Theater-, Musik- und Kunstszene. Das Theater komplettiert nur mehr den bestehenden Rahmen. Neu hingegen ist das Konzept der Stadt, gemeinsam mit dem Theaterbau weitere kreative Dienstleister, Musiklabels oder Software-Entwickler anzusiedeln, um jene Synergien zwischen Kultur, Medien und Industrie herzustellen. So hat VW neuerdings seine Design-Abteilung auf dem Gelände gegenüber dem Theaterbau platziert. Oracle programmiert Software im Speicherhaus. Ein junges Publikum macht Kaffeepausen auf den Restaurantschiffen daneben. Das Gespenst der Verdrängung, höherer Mieten und inhaltlicher Verflachung, das so viele alternative Kulturorte nach ihrer Aufwertung durch Geld und Investitionen verschreckte, geht hier nicht um. Noch nicht.

Böhm hat den 9.500 Quadratmeter Bruttogeschossfläche großen Theaterneubau im Kontext dieses historischen und experimentierfreudigen genius loci gestaltet. Das Gebäude dockt mit seiner spitzwinkligen Nase an den alten Gasometer an, der zugleich als Hof für große Kulissen dient. Danach weitet sich der Bau mit zwei Schenkeln für Büros und alle Theaterwerkstätten, die Kostümabteilung und die Garderobe, die Kantine und die Intendanz. Zwischen die Flügel eingeklemmt sind die Hinter- und Hauptbühne, der Theatersaal und das Pausenfoyer unter den fliegenden Dächern mit dem wunderbaren Blick auf den Tiefen See.

Der Architekt, berühmt für das Bauen mit historischer Substanz, führt mit den Relikten der Industriearchitektur nicht nur einen Dialog, sondern hat sie im Haus neu belebt. Handläufe sind aus Eisenbahnschienen gestaltet, Decken und Böden in rohem Beton. Die Konstruktion ist aus offenem Stahl, die Farben Schwarz und Rot erinnern an Lokschuppen. Eine Besonderheit zusätzlich bietet das Haus dem Zuschauer, aber auch möglichen Tagesnutzern: Während übliche Theater einen geschlossenen Zuschauerraum bieten, hat Böhm hier den Raum mit Glas umgeben. Er zeigt – bei aufgehobener Verdunkelung – die größte Kulisse vor Ort: die Potsdamer Natur- und Seenlandschaft. Dieses Zusammenwirken von Natur und der modernen Architektur des Stadttheaters ist schon jetzt eine gelungene Synergie.