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Archiv-Artikel

Die Kurve ist die Natur

BRASILIEN Die „andere Moderne“, die den Neokonkretisten vorschwebte, ist hochaktuell. Eine Ausstellung in Berlin

Ästhetische Erlebnisfähigkeit birgt genauso viel politischen Sprengstoff wie der dokumentarische Zeigefinger der Kunst

VON INGO AREND

„Die Kurve ist die Natur.“ Oscar Niemeyers Antwort war kurz und schlagend. Als der Schweizer Architekt Max Bill, damals Direktor der Bauhaus-Nachfolgerin, der Ulmer Hochschule für Gestaltung, 1953 Brasilien besuchte, entbrannte ein heftiger Streit. Bill warf der Architektur des Erbauers von Brasilía wegen ihrer spektakulären Plastizität „antisoziale Verschwendung“ vor. Lapidar verwarf daraufhin Niemeyer den strengen Funktionalismus, den die Konstruktivisten zum obersten (Kunst-)Gebot gemacht hatten. Und sein Mitstreiter Lucio Costa ergänzte: „Wir stammen nicht von Schweizer Uhrmachern ab, sondern von Leuten, die barocke Gebäude gebaut haben.“

Man könnte den Vorgang als amüsante Fußnote zur brasilianischen Kunstgeschichte werten. Doch dann würde man die sehenswerte Ausstellung „Das Verlangen nach Form“, die die Berliner Akademie der Künste derzeit präsentiert, bloß historisch auffassen und damit missverstehen. Zwar erinnert sie an die hierzulande nahezu unbekannte Kunstrichtung der Neokonkretisten, doch die „andere Moderne“, die diese dem lateinamerikanischen Kontinent bescherte und die in den einschlägigen Dokumentensammlungen der Avantgarden noch immer fehlt, transportiert ein bis heute virulentes Versprechen.

Auf den ersten Blick wirken Arbeiten wie Lygia Clarks „Bicho“ aus dem Jahr 1960, eine dreidimensionale Aluminiumskulptur mit beweglichen, in den Raum ragenden Flügeln, oder Hélio Oiticicas rote und gelbe Raumreliefs wie Werke im Geiste der konkreten Kunst. Doch wer genau hinsieht, bemerkt, wie sich in diesen Objekten formale Strenge und dynamische, sensitive Energien verbinden. Neokonkretisten nannte die neue Gruppe sich, weil die beteiligten Künstler zwar an die konstruktivistische Avantgarde anknüpfen wollten – zu einer Zeit, wo der Rest der Welt dem Informel, Tachismus und dem Abstrakten Expressionismus huldigte. Sie störten sich nur an deren allzu nüchternem Rationalismus.

Tropicalismo der Form

In dem von dem Maler Ferreira Gullar 1959 formulierten „Neokonkreten Manifest“ wandte sich die neue Gruppe schließlich explizit gegen die Auffassung vom Kunstwerk als Maschine, Objekt oder mathematische Gleichung. Das „besondere Wesen des ästhetischen Organismus“ sollte es nach Meinung der sieben Unterzeichner sein, einen „neuen expressiven Raum“ zu begründen. Künstler wie Lygia Clark, Hélio Oiticica, Lygia Pape oder Ferreira Gullar wollten die geometrischen Sprachen also nicht aufgeben, sondern sie – ähnlich wie beim gut zehn Jahre später entstandenen „Tropicalismo“, der europäische und brasilianische Musik verschmolz – sensibilisieren, erotisch aufladen. Der Fleck war ihnen näher als das Quadrat. Den Neokonkretisten schwebte ein „organischer Sinnlichkeitsraum“ vor, in dem die Grenzen zwischen Werk und Raum, Betrachter und Werk aufgehoben sind.

Mit ihrer antiszientistischen und antipositivistischen Stoßrichtung zogen die Spontis des Konstruktivismus schnell den Vorwurf des Irrationalismus auf sich. Und Orthodoxe jeglicher Couleur dürfte die Idee, dass die politische Wirkung der Kunst darin liegt, unpolitisch zu sein, heute wie damals auf die Barrikaden treiben. Doch wer die „Objetos ativos“ Willys de Castros betrachtet, scheinbar pur minimalistische Objekte, bei denen der Betrachter sich entscheiden muss, ob er die weißen oder blauen Farbfelder auf ihnen als Oberfläche oder als Vertiefung sehen will, wird zugeben, dass die Idee von der Schulung der ästhetischen Erlebnisfähigkeit mindestens genauso viel politischer Sprengstoff birgt wie der dokumentarische Zeigefinger der Kunst. Als Ersatzwissenschaft soll diese uns heute wieder einmal die Augen für die Risiken und Ungerechtigkeiten einer Welt am Rande der Apokalypse öffnen.

In der Art und Weise, wie die Neokonkretisten Sinnlichkeit und Rationalität, Eros und Geometrie verbinden wollten, steckt das Potenzial für einen dritten Weg: Die andere Moderne, die angesichts von Klimawandel, Technikkatastrophen und Bürgerkriegen wieder einmal alle suchen, beginnt mit einer anderen Wahrnehmung, in der Gefühl und Imagination eine wichtige Rolle spielen. Dieses Credo hat seine Anziehungskraft auf eine jüngere Künstlergeneration nicht verloren. Die 1956 geborene Carla Guagliardi, die zwischen Rio de Janeiro und Berlin pendelt, hat in einem Raum Holzplanken über weiße, halb gefüllte Luftballons gelegt. „Verso“ hat sie das instabile Energiefeld, das dabei entstanden ist, genannt. Schöner ist das prekäre Gleichgewicht unserer Risikogesellschaft selten dargestellt worden.

■ „Das Verlangen nach Form – O Desejo da Forma. Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien“. Akademie der Künste, Berlin, bis 7. 11., Katalog 35 Euro