: Wo die Sprache versiegt
KAMBODSCHA Ein ungewöhnlicher Roman über Zwangsarbeit und Überleben unter den Roten Khmer – „Im Schatten des Banyanbaums“ von Vaddey Ratner
VON CATARINA VON WEDEMEYER
Eines Abends sitzt der Vogel so lange in der Lotusblüte, bis sie sich über ihm schließt. Die ganze Nacht verbringt er in Gefangenschaft der Blüte. Als er am nächsten Morgen nach Hause fliegt, duftet der Vogel wie eine Blume. Für Raami endet die Geschichte hier, den Rest verschweigen ihr die Eltern. Ähnlich märchenhaft beginnt der Roman von Vaddey Ratner: statt Happy End gibt es ein Happy Beginning. Unter dem Titel „Im Schatten des Banyanbaums“ erzählt die Schriftstellerin aus der Perspektive eines Mädchens von der Machtübernahme der Roten Khmer.
Es handelt sich also mitnichten um ein Kinderbuch. Als die Roten Khmer 1975 das „Demokratische Kambodscha“ ausriefen, war die Autorin fünf Jahre alt. Wie die Familie ihrer Protagonistin gehört sie zu den Nachkommen des König Sisowath. Als solche hätte sie auch gleich erschossen werden können. Stattdessen schicken die Rebellen sämtliche Kambodschaner zunächst aufs Land – zur „Umerziehung“. Das ist kaum besser: Etwa zwei Millionen Kambodschaner sterben an Krankheit, Hunger und Erschöpfung, viele werden gefoltert und erschlagen. Nach vier Jahren Zwangsarbeit gelingt es der Mutter von Vaddey Ratner, mit der inzwischen neunjährigen Tochter über Thailand in die USA zu fliehen. Heute lebt die Autorin in Washington D. C.
Die Geschichte, die sie in ihrem Debüt erzählt, ist also in weiten Teilen ihre eigene. Um die Gräueltaten der Gewaltherrschaft zu beschreiben, webt sie mythische Erzählungen in ihren Bericht. Statt die Schrecken aber zu verharmlosen oder zu dramatisieren, macht Ratner sie erlebbar. Das beeindruckt mehr als Fakten.
In einer gleichzeitig unschuldigen und weisen Sprache berichtet das Mädchen Raami erst von ihrer Kindheit in einem Haus voller Geschichten und liebevoller Erwachsener. Raami kann seit einer Kinderlähmung nicht mehr richtig laufen, ansonsten entspricht ihre Welt der einer Prinzessin. Als sie von den Roten Khmer verjagt wird, flieht die Familie in ein Sommerhaus. Noch gelingt es Raami, die schwarz gekleideten Rebellen als böse Geister in ihre Fantasiewelt einzubauen.
Doch dann wird die Familie immer weiter aufs Land getrieben und schließlich getrennt. In den Reisfeldern stirbt die kleine Schwester von Raami an Malaria, Raami fühlt sich schuldig. „Es werden nur so viele überleben, wie im Schatten eines Banyanbaums Platz finden“, hatte „Großmutter Königin“ gesagt. Sie behält recht. Bald erfährt Raami das Ende der Vogelgeschichte: Als der Vogel nach der Nacht in der Lotusblüte zu seiner Familie zurückkehrt, trifft er nur noch seine wütende Frau. Ein Waldbrand hat das Nest zerstört.
Inzwischen sind nur noch Raami und ihre Mutter übrig. Für den Bau eines Deichs müssen sie Erde schaufeln, viele Zwangsarbeiter sterben dabei. Raami stellt sich vor, sie bauten ein Grab für einen Drachen-Yiak, einen Riesendrachen. Bisher war es der Protagonistin fast immer gelungen, Sinn und Schönheit zu entdecken. Sei es an der bemalten Decke eines geschändeten Tempels, in zwei ineinanderverschlungenen Palmen oder im Charakter eines Wahlverwandten. So wirkt das Buch unerwartet bereichernd. Ohne es auszusprechen, vermittelt die Geschichte das Gefühl, dass man sich auf den Lebenswillen verlassen kann.
Bei der Arbeit in den Gräben verliert das ausgehungerte Mädchen jedoch schließlich die Vorstellungskraft und damit ihre Sprache. Tatsächlich ist der Roman an dieser Stelle am kürzesten. Erst viel später, als Raami ein Gedicht vom Vater findet, beginnt sie wieder zu sprechen.
Sie erinnert sich: Kurz bevor ihr Vater sich für immer verabschiedet, hatte er der Tochter erklärt, dass er ihr die Geschichten als Ausgleich für ihr krankes Bein erzählt habe. Sie sollten ihre Flügel sein. Ohne Kontext klingt das kitschig – unter der Gewaltherrschaft stellt sich die Fantasie als überlebenswichtig heraus.