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Archiv-Artikel

Avantgarde made in Berlin

NEUE MUSIK Opern über Intelligenztests und frei improvisierende Orchester: Das Festival MaerzMusik präsentiert in diesem Jahr aktuelle Musik aus Berlin. Zugleich ist es die letzte Ausgabe unter der Leitung Matthias Osterwolds

„Echtzeitmusik“ ist eine der größten musikalischen Besonderheiten der Stadt

VON TIM CASPAR BOEHME

Tester fragen, die Probanden antworten. Dialoge aus wissenschaftlichen Intelligenztests bilden die Textbasis der Oper „IQ“, der fünften gemeinsamen Arbeit des Komponisten Enno Poppe und des Schriftstellers Marcel Beyer. Ihr Thema ist das mechanistische Menschenbild der Hirnforschung, die das Gehirn gern wie einen Computer betrachtet. Eine „Testbatterie in acht Akten“ nennen sie ihr Stück, in dem Poppe das Geschehen mit einer Musik kommentiert, die zwischen Exaktheit und chaotischem Zufall, Technik und Freiheit oszilliert.

Enno Poppe lebt – wie eine Vielzahl der bedeutendsten Komponisten der jüngeren Generation von Mark Andre über Rebecca Saunders bis zu Michael Wertmüller – in Berlin. Denn auch für die „Neue“ oder „zeitgenössische“ Musik, also für Musik, die von ausgebildeten Komponisten in der Regel um ihrer selbst willen geschrieben wird, ist Berlin längst eine der interesantesten Städte der Welt.

Die aktuelle Ausgabe der MaerzMusik nimmt dies zum Anlass, sich einmal ganz auf Berlin als Musikstadt zu konzentrieren. Neben den Komponisten gibt es hier seit einigen Jahren verstärkt Ensembles, die auf Neue Musik spezialisiert sind und damit entscheidend dazu beitragen, dass neue Werke ihr Publikum finden. Zu hören sind daher das KNM Berlin, Berlin PianoPercussion und das Debütkonzert des Ensemblekollektivs Berlin, ein Zusammenschluss von Ensemble Adapter, Ensemble Apparat, ensemble mosaik und Sonar Quartett.

Der eigentliche Schwerpunkt des Festivals liegt jedoch beim aktuellen Musiktheater aus Berlin. Im Musiktheater bieten sich – von Klangkunstinstallationen einmal abgesehen – die größten Möglichkeiten, Fragen zu stellen, die sich mit rein musikalischen Mitteln nur begrenzt artikulieren lassen – siehe „IQ“ als „Beitrag“ zur Neurowissenschaft.

Ebenfalls mit dem Körper, wenn auch aus ganz anderer Perspektive, beschäftigen sich der Komponist Michael Wertmüller und der Schriftsteller Lukas Bärfuss: In ihrem Musiktheaterstück „Anschlag“ kontrastieren sie die Schönheit des menschlichen Körpers mit der Brutalität, der er ausgeliefert ist. Zeit, so ihr Ansatz, sei ein Anschlag auf das Leben und Kunst der Versuch, sich dessen Endlichkeit entgegenzustellen. Wertmüller verleiht dieser Variation auf eine klassische Idee mit dichter, energischer Musik voller Spannung neuen Ausdruck.

Um Endlichkeit kreist auch das Musiktheater der in Berlin lebenden Schweizer Komponistin Mela Meierhans. Die Trauerrituale der monotheistischen Religionen sind das große Thema ihrer „Jenseitstrilogie“, deren erste beide Teile 2006 und 2010 bei der MaerzMusik aufgeführt wurden und die sie jetzt mit der Uraufführung von „Shiva for Anne“ beschließt. Das Werk ist ebenso persönliches Erinnerungsstück für ihre 2011 verstorbene künstlerische Partnerin Anne Blonstein, die ursprünglich das Libretto verfassen sollte. Stattdessen verwendete Meierhans Gedichte Blonsteins und ergänzte sie mit Erinnerungen ihrer Freunde. Beim Komponieren gewinnt Meierhans ihr Material oft aus der Struktur der Sprache: So ordnete sie für „Shiva“ den ersten zwölf Buchstaben des hebräischen Alphabets bestimmte Töne zu.

Zusätzlich zum Musiktheater setzt die Sonic Arts Lounge mit Konzerten verschiedenster Improv-Musiker einen weiteren Berlin-Schwerpunkt. Die „Echtzeitmusik“, wie die freie oft, geräuschhafte Improvisation aus Berlin genannt wird, ist eine der größten musikalischen Besonderheiten der Stadt. So kann man die Band Denseland, bestehend aus dem Vokalkünstler David Moss, Schlagzeuger Hanno Leichtmann und dem Bassisten Hannes Strobl in einem ihrer seltenen Konzerte hören. Auf ihrem jüngsten Album „Like likes like“ reduziert das Trio Wort und Klang zu experimentellen Quasi-Songs, deren Kraft gerade in den Auslassungen steckt.

Zwischen Improvisation und Neuer Musik bewegt sich der US-amerikanische, in Berlin lebende Komponist Arnold Dreyblatt mit seinem Orchestra of Excited Strings. Sein Minimalismus basiert auf der natürlichen Obertonreihe und ist sogar an Rockmusik anschlussfähig. Ebenfalls in verschiedene Richtungen offen gibt sich das exil-australische Trio The Necks mit einem schwebenden Klang zwischen Jazz, freier Improvisation und Ambient. Und als panakustisches Kollektiv der Berliner Echtzeitmusik-Szene bietet schließlich das 24 Musiker starke Splitter Orchester ein Konzert mit „strukturierten Improvisationen“.

Diese MaerzMusik markiert zudem eine Zäsur: Sie wird die letzte unter Matthias Osterwold sein, der das Festival seit seiner ersten Ausgabe 2002 kuratiert hat. Auf ihn folgt im Herbst der österreichische Dramaturg und Kurator Berno Odo Polzer als künstlerischer Leiter des Festivals. Dass Osterwold seine Ära mit einer „Berliner“ MaerzMusik beendet, kann man auch als Abschiedsgeschenk an die Musiker der Stadt verstehen.