: Runde Ecken im Strom der Zeit
RETROSPEKTIVE Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt mit „Alchemie des Alltags“ die erste Ausstellung zu Werk und Wirkung Rudolf Steiners auf neutralem Boden
VON ANSGAR WARNER
Wolfsburg ist eine Retortenstadt, die auf den ersten Blick so gar nichts Organisches hat, ein Fest der Logistik und Geometrie rechteckiger Werkshallen. Doch wer den ästhetischen Spießrutenlauf durch die betonierte Fußgängerzone auf sich nimmt, landet am Ende ausgerechnet im geistigen Universum Rudolf Steiners. Denn die Wolfsburger Kunsthalle widmet dem Schöpfer der anthroposophischen Bewegung zurzeit eine sehenswerte Doppelausstellung.
Unter dem Titel „Alchemie des Alltags“ geht es um Werden, Wirken und vor allem den Einfluss Steiners auf Architektur, Design, Kunst und Gesellschaft. Die vom Vitra Design Museum konzipierte Schau firmiert als „weltweit erste umfassende Retrospektive“ außerhalb eines anthroposophischen Kontextes.
Spezifisch auf die Gegenwart ausgerichtet ist dagegen der zweite Teil, entstanden in Kooperation mit dem Kunstmuseum Stuttgart. Mit Werken von insgesamt 15 zeitgenössischen Künstlern versucht man sich der Ideenwelt Steiners aus heutiger Perspektive zu nähern. Zur Einstimmung werden den Besuchern bizarre Formspiele mit auf den Weg gegeben – amorphe Plastiken wie Tony Craggs „Rote Figur“ huldigen dem Menschen als dem „am meisten entwickelten Material“. Zugleich geben metamorphotisch wuchernde Säulenkapitelle aus Rudolf Steiners „Goetheanum“ beredtes Zeugnis vom Ideal der vergeistigten Materie.
Was sich im Denken Steiners so alles tummelt, zeigt das bunte Mosaik einer Stellwand, die aus den Covern seiner etwa 350 Bände umfassenden Gesamtausgabe besteht. Da geht es um Reinkarnation und Karma, Evolutions- wie Mysteriengeschichte, aber ebenso um Medizin, Nationalökonomie und Landwirtschaft. Die Grundlage für Steiners anthroposophischen Ideenkosmos legte sein achtsemestriges Studium der Naturwissenschaften an der Universität Wien, dem die ausgiebige Beschäftigung mit Philosophie und klassischer Literatur folgte.
Als Lehrer, Publizist und Goethe-Forscher lebte Steiner in Wien, München und später auch in Berlin am Puls der Zeit. Er korrespondierte mit dem Naturforscher Ernst Haeckel, traf sich mit Franz Kafka zum Kaffee und saß mit Rosa Luxemburg auf derselben Rednertribüne. In den Vitrinen der Wolfsburger Ausstellung sind die vielfältigen Aktivitäten nicht nur durch Fotos, sondern vor allem durch zahlreiche Briefwechsel belegt. Die zeitgenössische Karikatur einer Berliner Zeitschrift weist darauf hin, das Steiner zeitweise sogar geradezu zum „Stadtgespräch“ wurde. Der umtriebige Erfinder der Anthroposophie war nicht nur geistig flexibel, er war auch finanziell liquide – was für Künstlerkolleginnen wie Else Lasker-Schüler ein Grund gewesen sein mochte, den „hochverehrten Herrn Doktor“ um 100 Mark anzupumpen.
Vor allem in den 20er Jahren war Steiner als Vortragsreisender ständig unterwegs, und er hinterließ neben stenografierten Mitschriften ein bedeutendes Konvolut von bunten Kreidezeichnungen auf Tafelfolie. Im Dornacher Rudolf Steiner Archiv werden diese Tafelbilder bis heute aufbewahrt – eine Auswahl von ihnen begleitet auch den Besucher durch die Wolfsburger Ausstellung. Weder klobige anthroposophische Möbel, die das Vitra Design Museum beisteuert, noch kristalline Kleinode oder organische Eurythmiefiguren in den Vitrinen können ähnliche Effekte erzeugen.
Die spontanen, freihändig ausgeführten Skizzen machen dagegen den Eindruck, als hätte Steiner gerade erst vor Minuten den Raum verlassen. Da fliegen Eidechsen mit leuchtender Laterne auf dem Kopf durch den Raum, bunte Ätherleiber entfernen sich vom Erdenrund ins Weltenall, und dampfende Eingeweide untermalen den kataleptischen Zustand der Posthypnose. Was für die einen zum auratischen Erlebnis wird, dürfte die anderen allerdings eher zum Kopfschütteln anregen – was für ein Scharlatan war hier am Werk!
Doch auf dem neutralen Boden des Kunstmuseums bietet sich ein dritter Weg der Interpretation an. Was Steiner hinterlassen hat, war teilweise sogar große Kunst, die man rückwirkend aber erst richtig schätzen kann, wenn man den erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys akzeptiert hat. Auch Steiner hat an einem Gesamtkunstwerk gearbeitet, man kann es bis heute als eine soziale Plastik verstehen, die tief in den sozialen Raum hineinragt. Ähnlich wie Beuys kannte Steiner keinerlei Berührungsängste, war sich für nichts zu schade, nicht mal für den Verpackungsentwurf von Migränemitteln.
Doch wie modern ist Steiner wirklich? Die Wolfsburger Ausstellung weist deutlich auf einige unbequeme wie unzeitgemäße Elemente im anthroposophischen Gedankengebäude hin. Nichtsdestotrotz rief das Kunstmagazin Monopol Steiner unlängst zur Symbolfigur der „heraufziehenden schwarz-grünen Koalition“ aus.
Denn so wie die CDU den „Kohl-Muff“ und die Grünen das „Pullistricker-Image“ überwunden hätten, so sei Steiners Lehre mittlerweile bequem „ohne sektiererischen Zinnober“, „gruseligen Spiritualismus“ oder „rassistische Anklänge“ zu haben. Solche Sätze lassen einen allerdings mehr vor Schwarz-Grün gruseln als vor allem anderen. Was Steiner wirklich modern machen dürfte, scheint auf einer ganz anderen Ebene zu liegen – es ist die Kombination von genialem Dilettantismus und ungeniertem Eklektizismus.
Den besten Beweis für diese These liefern in der Wolfsburger Doppelausstellung die Werke von Künstlern wie Tony Cragg, Anish Kapoor oder eben Joseph Beuys. Denn ähnlich kreativ, wie sie Elemente aus Steiners Ideenvorrat aufnehmen und umwandeln, hat sich Steiner selbst aus dem kulturellen Umfeld seiner Gegenwart bedient. Bestes Beispiel ist die Architektur des Goetheanums in Dornach. „Was wäre die Konstruktion ohne den Eisenbeton“, verkündete bereits Bruno Taut auf der Fassade seines Glaspalastes für die Werkbundausstellung 1914. Für den Anthroposophentempel mit seiner geschwungenen Fassade kam dann knapp zehn Jahre später tatsächlich die modernste Bauform der Zeit zum Einsatz – und wurde seitdem immer wieder zum Vorbild. Spuren dieser Entwicklung sind selbst im Stadtbild von Wolfsburg zu entdecken.
Ob Scharouns Theaterkomplex, das Kulturzentrum von Alvar Aalto oder Zaha Hadids Science Center namens „Phaeno“, all diese modernen Gebäude wurden nicht nur aus Beton gegossen, ihnen wurde zugleich auch Naturgesetzlichkeit durch den Menschengeist eingegossen, wie Steiner sagen würde. Wer weiß, vielleicht wäre der Freund durchgeistigter Materie sogar ein Fan des stromlinienförmigen VW-Käfers geworden.