Unüberwindliche Grauzone

Nach fünf Jahren Recherche hat der Journalist Lawrence Wright mit „The Looming Tower“ nun das Standardwerk über die Vorgeschichte der Anschläge vom 11. September vorgelegt

VON TOBIAS RAPP

Es waren nur ein paar Augenblicke, in denen die Welt nach den Anschlägen vom 11. September 2001 den Atem anhielt. Schon kurz danach begann eine so umfassende Textproduktion, wie sie kein anderes Ereignis der vergangenen Jahre zur Folge hatte. Eines ist den meisten Artikeln und Büchern gemeinsam: Es wird stets versucht, das Ereignis zu verstehen, seine Folgen abzuschätzen, seine kulturellen und politischen Konsequenzen zu umreißen. Wie hätte es auch anders sein sollen. Für die genaue Rekonstruktion der Ereigniskette, die zu den Anschlägen führte, braucht es eben Material, das Geheimdienstler wie Terroristen nur ungern herausrücken.

Dass man es bekommen kann, wenn man nur beharrlich genug ist und sich die Zeit nimmt, zeigt nun der New Yorker Journalist Lawrence Wright mit seinem Buch „The Looming Tower. Al Qaeda And The Road To 9/11“. Fast fünf Jahre hat er daran gearbeitet, allein die Liste seiner Interviewpartner, die er auf vier Kontinenten getroffen hat, umfasst achteinhalb Seiten. Einige der Vorarbeiten hat Wright schon im Magazin New Yorker veröffentlicht.

Wrights Buch liest sich so spannend wie ein Thriller. In dessen Zentrum stehen vier Hauptfiguren: Sayyid Qutb, ein ägyptischer Intellektueller, der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren mit seinen Büchern „Meilensteine“ und „Im Schatten des Korans“ der Vordenker der Muslimbrüder wird – Nasser lässt ihn 1966 hinrichten; Aiman az-Zawahiri, zunächst Führer der ägyptischen Organisation Islamischer Dschihad und nach einigen Kämpfen nun der ideologische Kopf von al-Qaida; natürlich Osama Bin Laden; und schließlich John O’Neill, der Chef des New Yorker FBI-Büros.

Tatsächlich beginnt die Geschichte dort, wo sie auch endet: in den USA. Der Gelehrte Sayyid Qutb lebt hier in den späten Vierzigern für längere Zeit als Stipendiat, vor allem in dem Universitätsstädtchen Greeley, einem kleinen Reformparadies in Colorado, das Qutb nachhaltig verstört. Die zufriedene Gottlosigkeit und die selbstverständliche Frauenemanzipation sind für ihn so faszinierend wie abstoßend – Echos dieses Gefühls werden sich bei vielen seiner Schüler finden.

Auch Aiman az-Zawahiri wächst in direkter Berührung mit dem Westen auf. Der Vorort von Kairo, wo seine Familie lebt, ist in den späten Fünfzigern zwar nicht mehr von den britischen Kolonialbeamten bevölkert, für die er einmal errichtet worden ist, doch als Wohnort europäischer Ausländer kann man ihn durchaus als Peripherie der westlichen Welt verstehen. Mit 15 Jahren gründet az-Zawahiri seine erste Zelle zum Sturz der Regierung.

Osama Bin Laden schließlich ist der behütete Sohn des wichtigsten und wohlhabendsten Bauunternehmers von Saudi-Arabien; die Firma seines Vaters ist etwa dafür verantwortlich, dass die Heiligen Stätten unter dem Pilgeransturm nicht zusammenbrechen. Detailliert zeichnet Wright nach, wie aus den Situationen in Ägypten und Saudi-Arabien unterschiedliche Islamismen hervorgehen, sich radikalisieren, Allianzen eingehen und sich schließlich verbinden.

Es ist ein ganz eigenartiger Treck, mit dem sich Bin Laden und seine Leute zwischen Sudan und Pakistan durch die arabische Welt bewegen – todessehnsüchtig und großsprecherisch, isoliert und doch mit Verbindungen zu den höchsten Stellen. Ständig sind sie mit dem Umsturz beschäftigt und dabei ohne einen Plan, was nach diesem Umsturz überhaupt folgen soll. Es ist eine Männergesellschaft, in deren Gefolge sämtliche Haupt- und Nebenfrauen nebst Kindern reisen und leben.

Wright fördert erstaunliche Details zutage – nicht nur über die ideologische Entwicklung der Organisation, die er inklusive aller theologischen Implikationen nachzeichnet, und die verschiedenen Stadien ihrer militärischen Durchschlagskraft. Wright weiß auch, welche Gedichte Bin Laden bei der Hochzeit seines Sohnes vorliest. Eine Genauigkeit, die man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Beziehen die meisten der im Westen kursierenden Verschwörungstheorien zu 9/11 ihre Kraft doch genau daraus, sich diese Welt eben nicht vorstellen zu wollen oder zu können. Der Wahrnehmungshorizont ist hier meist der Westen – deshalb ist am Ende ja auch immer der Mossad oder die CIA schuld.

Tatsächlich ist Wrights Geschichte der Entstehung von al-Qaida aber nur ein Teil seines Buchs. „The Looming Tower“ dürfte auch die umfassendste Darstellung des Versagens der amerikanischen Geheimdienste angesichts der islamistischen Bedrohung sein. Zwar ist der FBI-Mann John O’Neill in den frühen 90ern einer der Ersten, die die Bedrohung durch den islamischen Fundamentalismus ernst nehmen und mehrmals sehr nahe an al-Qaida und die Anschlagspläne herankommen. Doch trotz unermüdlichen Engagements scheitert er an den Rivalitäten zwischen FBI, CIA oder NSA, an bürokratischen Hürden und dem Glück seiner Gegner.

Frustriert kündigt er im Frühjahr 2001 seinen Job beim FBI und geht in die Privatwirtschaft – um als Sicherheitschef des World Trade Center in den brennenden Trümmern zu sterben. Mit seinen drei Frauen, die nichts voneinander wissen und sich beim Begräbnis das erste Mal über den Weg laufen, seinen teuren Anzügen und seinen ständigen Schulden bildet der schillernde O’Neill eine ganz eigenartige Gegenfigur zu Bin Laden.

Wright hat wenig übrig für die großen Thesen, die umfassenden Theorien. Hier gibt es keinen Kampf der Kulturen, keinen Islamofaschismus, keine Religionswissenschaft, keine Totalitarismusforschung. Wright ist Journalist, er lässt andere erzählen und hört zu. Manchmal geht er sehr weit – die Akkuratesse, mit der er nächtliche Gespräche, die vor zwanzig Jahren in irgendeinem verstaubten Ausbildungslager geführt wurden, Wort für Wort rekonstruiert, kann man getrost anzweifeln.

Doch Wright weiß von diesem Problem: Der umfangreiche Anmerkungsapparat des Buchs klärt Punkt für Punkt über Widersprüche zwischen verschiedenen Quellen auf, liefert Nachweise, ergänzt seine Recherchen, umreißt die Grauzonen, für die sich nicht klären lässt, was wirklich passiert ist. Viele Dinge werden sich nie mehr klären lassen. Und in seiner intellektuellen Redlichkeit und seinem erzählerischen Geschick dürfte Lawrence Wright mit „The Looming Tower“ die größtmögliche Annäherung an die Ereignisse erreicht haben, nach denen die Welt für einen Augenblick den Atem anhielt.

Lawrence Wright: „The Looming Tower. Al-Qaeda And The Road To 9/11“. Alfred A. Knopf, New York 2006, 470 Seiten, 23,43 €