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Archiv-Artikel

Für immer die Muttertiere

Sex, Humor, wilde Action und ein Brief an Ussama Bin Laden: Der junge englische Schriftsteller Chris Cleave hat kurz vor den Anschlägen auf die Londoner U-Bahn mit „Lieber Osama“ ein zünftiges Terror-Satire-Drama geschrieben

von KATHARINA GRANZIN

Als literarisches Projekt ist das ja ein Wahnsinn: einen Roman zu schreiben über eine Frau, die bei einem Al-Qaida-Anschlag in London Mann und Kind verliert, während sie selbst mit dem Nachbarn vögelt, kurze Zeit später dann, selber nur knapp mit dem Leben davongekommen, ihren neuen Liebhaber beim Beischlaf zum Verrat von Staatsgeheimnissen bringt, was ihn die berufliche Existenz kostet und London in ein – weiteres – protoapokalyptisches Szenario treibt. Und dieses Sex-und-Terror-Masala noch großzügig anzureichern mit flottem Witz, herzzerreißender Tragik und greller Konsum- und Kapitalismuskritik. Sicher mögen das nicht alle. Sicher haben diejenigen Recht, die dem jungen Engländer Chris Cleave und seinem ersten veröffentlichten Roman Geschmacklosigkeit vorwerfen.

Natürlich zeugt es von äußerster, aber auch äußerst kalkulierter Geschmacklosigkeit, wenn, in einer genussvoll langen Parallelführung der Handlung, die Heldin genau in jenem Moment zum Orgasmus gelangt, in dem Mann und Sohn im Fußballstadion von Bomben zerfetzt werden. Doch auch das Gegenteil von gutem Geschmack kann gute Literatur sein. Schrill und schnell ist dieses Buch. Es ist geschrieben aus der Sicht einer Frau. Einer Ich-Erzählerin, die einen Brief an Ussama Bin Laden schreibt. „Lieber Osama“, beginnt der Roman, bereits diese Vertraulichkeit eine unverschämte Grenzüberschreitung, die auf eine empfindliche Stelle des westlichen Selbstverständnisses zielt. Diese kleine Geschmacklosigkeit macht von Anfang an klar, womit wir es zu tun haben: Dies ist Satire, Mensch. Dass die sich hier in gewagter Rezeptur mit großem Drama mischt, ist in der Tat speziell. Aber das eine lässt sich bei Cleave nicht ohne das andere haben. Und mit Sicherheit konnte der Autor sein Thema nur so unerschrocken verarbeiten, weil das Buch tatsächlich vor den realen Londoner Terroranschlägen entstanden ist.

Cleaves Ich-Erzählerin bleibt bis zum Schluss namenlos. Das ist nur konsequent, denn mit ihr steht eine Figur im Zentrum, mit der man sich ihres Humors, ihrer menschlichen Großzügigkeit und ihres tief gefühlten Leids wegen zwar gern identifiziert, die aber auch ikonenhafte, überindividuelle Züge hat. Eine durchsetzungsfähige junge Frau, beste englische Arbeiterklasse, die wahrscheinlich ein ausgeprägtes Londoner East-End-Englisch spricht. Ein wie einem Ken-Loach-Film entsprungenes Muttertier höchster Güte, das seinen kleinen Sohn über alles liebt und doch den Hang dazu hat, sich schnell mit irgendwelchen Kerlen einzulassen. Die zwei Seiten des englischen Proletarierweibes halt. Das nicht davor zurückschreckt, über Leichenberge zu klettern, um ihre toten Lieben zu finden, und die, während sie auf der Toilette eines Pubs vergewaltigt wird, den Gewalttäter gleichzeitig tröstet.

Während die Erzählerin, stets begleitet von der halluzinierten Gestalt ihres toten Sohnes, irgendwie weiterlebt, geht ihr Nachbar und Exlover Jasper allmählich vor die Hunde. Er wohnt mit seiner karriereorientierten Freundin Petra, die für dieselbe Zeitung schreibt wie er selbst, auf der anderen, der Yuppieseite der Straße. Zwischen Petra, Jasper und der Erzählerin bildet sich ab dem zweiten Drittel des Buches ein seltsames Beziehungsdreieck. Hier beginnt Cleave leider recht stark ins Thesenhafte abzudriften. Zu zeichenhaft aufgeladen ist die neue Konstellation, zu umrisshaft sind die Figuren. Die beiden Frauen nämlich sehen sich zum Verwechseln ähnlich, ja Moderedakteurin Petra nimmt sich gar der übel mitgenommenen working class-Rivalin an und staffiert sie aus zu ihrem zweiten Ich. Aschenbrödel steigt moderat sozial auf, beginnt als Sekretärin des ehemaligen Chefs ihres Mannes, eines hochrangigen Polizisten im Antiterrorkampf, eine neue Existenz. Petra wiederum baut auf den Leichen der anderen eine große Karriere auf, wogegen der ehemalige Spezialist für soziale Themen Jasper nach dem Anschlag jeglichen sozialen Halt verloren hat.

Doch gerade als man sich zu fragen beginnt, ob das große Terror-Satire-Drama nun allen Ernstes ausplätschern soll in verschämt symbolhafte, auf die Beziehungsebene abgeschobene Gesellschaftskritik, kriegt Cleave die Kurve zurück zu der wilden Action, die er am besten kann. Dass ausgerechnet Petras Louis-Vuitton-Köfferchen dabei die entscheidende Rolle spielt, ist dann wieder eine hübsche Pointe.

Einmalig ist dieser Roman auf jeden Fall. Einmalig, dass man sich einerseits mitreißen lässt von Trauer, Wut und Liebe der Erzählerin und sich doch gleichzeitig hemmungslos delektiert am mitgereichten schwarzen Humor. Es ist eine wahrhaft explosive Lektüre. Man darf dabei lachen. Man darf auch mit angehaltenem Atem lesen. Eigentlich geht es gar nicht anders.

Chris Cleave: „Lieber Osama“. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay. Rowohlt, Reinbek 2006. 320 Seiten, 19,90 Euro