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Archiv-Artikel

Perfektes Dorf, das keines ist

Gemeinschaftliches Wohnen hat Konjunktur. In der Nähe von Kiel haben Kollektivgestählte ihre eigene Wohnanlage gegründet, in der man alt werden können soll. Vorerst sind es aber die Älteren, die den jungen Familien unter die Arme greifen

Von Esther Geißlinger

Am frühen Abend belebt sich der Platz: Kinder toben hinter einem Ball her, Mütter bleiben, die Hände auf die Hüften gestützt, auf ein kurzes Schwätzchen stehen. Männer gehen vorbei und grüßen. Stünde anstelle des hölzernen Gemeinschaftshauses mit dem schütteren Grasdach eine Kirche da, wäre der Platz mit Kopfsteinen gepflastert statt voller Grasinseln, gäbe es den Spielplatz mit den hölzernen Klettergeräten und Rutsche nicht, dann könnte dies ein Dorfplatz sein: das Herz eines Dorfes, wie es nur im Bilderbuch vorkommt. In dem alle Leute sich kennen, alle zu Fuß gehen und jeder ein bisschen auf die spielenden Kinder achtet. Jutta Isermayer sieht sich um und sagt: „Und wenn ich mal alt und tüdelig bin, dann kann ich hier auf einer Bank sitzen und zuschauen.“

Isermayer, Richterin von Beruf, hat das Dorf, das keines ist, mitbegründet: Sie und ihr Mann, der Anwalt Thomas Jung, starteten am Stadtrand von Kiel das Wohnprojekt „Hof Pries“. Klingt wie ein Reethaus, in dem eine Gruppe Kommunarden gemeinsam am Esstisch im Müsli rührt: „Neulich rief eine Frau an, die Alternativ-Urlaub auf dem Bauernhof machen wollte“, sagt Isermayer. Tatsächlich hätten sich die Wohnprojekte in Schleswig-Holstein aus solchen Kommunen in alten Höfen entwickelt, meint Christina Schoennagel vom Interessenverband Wohnprojekte. Das vielleicht bekannteste: die „Freie Republik Fresenhagen“, wo Ton-Steine-Scherben lebten und arbeiteten.

Die nächste Generation der Wohnprojekte sieht anders aus: größer, professioneller, individueller. „Da wird finanziell ein ganz schön großes Rad bewegt“, sagt Isermayer: Den „Hof Pries“ gestaltete eine Beratungsfirma mit, die Bau- und Planungsphase dauerte nervenaufreibende eineinhalb Jahre. Inzwischen leben 27 Parteien, insgesamt 60 Menschen, auf dem Gelände, in eigenen Wohnungen oder Häusern, verteilt auf sechs zweistöckige Gebäude. 6.500 Quadratmeter umfasst das Grundstück, in dessen Mitte das Gemeinschaftshaus liegt. Sandige Fußwege führen zu den Häusern, vorbei an selbst angelegten Beeten. Die Holzhäuser sind um den Bauernhof gewachsen, der der Anlage den Namen gab. In der ehemaligen Scheune entstanden Wohnungen, im Hauptgebäude befindet sich ein Laden.

Die Bauweise ist ökologisch, die Finanzierung konservativ: Eigenkapital, Eigenheimzulage und Bankkredite – die Bewohner sind kein Kollektiv, keine Genossenschaft, sondern eine Eigentümergesellschaft. Trotzdem ist ein Wohnprojekt anders als eine beliebige Reihenhaussiedlung: Die Kerngruppe um Isermayer und Jung suchte passende Mitbewohner, ein langer und nicht ganz einfacher Prozess. Dabei seien sie alle ganz normale Leute, meint Fredericke Balzereit, die zuschaut, wie ihr Sohn Matti den Spielplatz erkundet. Allerdings Leute, die das eigene Grundstück nicht zwangsläufig abschotten müssen. Balzereit schaut geradezu entsetzt: „Jägerzaun? Nein, das natürlich nicht.“

Sie und ihr Mann hätten „so eine Vergangenheit“, die sie bereit machte für das Wohnprojekt, sagt Jutta Isermayer: Kinderladen, in WGs gelebt, die Anwaltskanzlei als Kollektiv geführt. Im Wohnprojekt lebt das Paar nun in einer Haushälfte mit Blick auf eine Schafwiese. Es ist nicht weit zum Gemeinschaftshaus, in dem die Feste stattfinden und regelmäßig die Mitgliederversammlung tagt, über Neuzugänge berät und die Streitfragen entscheidet. Wenn zwei sich gar nicht einigen können, vermittelt die große Runde. Die Bewohner wollen mehr sein als Zufallsnachbarn, das bringt Verpflichtungen mit sich. Der „Hof Pries“ ist bewusst für Junge und Alte geplant, der jüngste Bewohner ist 13 Monate alt, die älteste über 70 Jahre.

„Zurzeit profitieren vermutlich die Familien mit kleinen Kindern am meisten“, hat Isermayer, selbst 56, beobachtet. Die Kinder können ungestört toben, die Eltern wissen, dass irgendein Nachbar immer da ist und ein Auge auf den Spielplatz hat. „Und wenn die Mütter joggen gehen, bleibt eine mit einem Korb voller Babyphone hier und passt auf.“

Die Kinderlosen wiederum genießen den Trubel: „Es ist nett, kleine Kinder im Umfeld zu haben. Und natürlich wird für die Älteren das eine oder andere erledigt.“ Aber: „Wir sind keine Pflegeeinrichtung. Wenn jemand dauerhaft bettlägerig wird, können wir das nicht leisten.“ Trotzdem glaubt Jutta Isermayer, die auf dem Land aufgewachsen ist und „verschiedene Formen von Altwerden kennt“, dass es möglich ist, die Älteren lange im Projekt zu halten: „Ein nachbarschaftliches Netz kann viel auffangen: Der eine kauft ein, der andere schaut mal nach dem Rechten. Man hat doch viel zu tun miteinander, ein Stück gemeinsamer Lebensgeschichte.“ Bisher ist die Gemeinschaft nicht gefordert worden: Die Ältesten im Projekt sind fit, sie helfen eher, als dass ihnen geholfen werden müsste. „Aber wenn jemand von uns Alzheimer oder etwas ähnliches bekommt, und wir nicht alles versucht hätten, um es hinauszuzögern, dann würde ich das als Niederlage begreifen“, sagt Jutta Isermayer. So lange das nicht eintritt, kann sie weiter davon träumen, dass sie eines fernen Tages geruhsam auf der Bank sitzen und dem Jungvolk zuschauen kann: perfektes Altwerden im perfekten Dorf.