piwik no script img

Archiv-Artikel

Wie es euch gefällt

In Berlin wollen Eltern eine Schule nach dem Sudbury-Modell gründen: ohne Stundenplan, ohne Klassen, ohne Zensuren. Denn nur was freiwillig gelernt wurde, bleibt auch im Gedächtnis

VON ULRIKE SCHATTENMANN

Das hätte Pippi Langstrumpfs Idee sein können: eine Schule, in der keiner sitzen bleibt oder nach vorne an die Tafel muss, in der die Lehrer Mitarbeiter heißen und auch nicht mehr zu sagen haben als die Kinder. Wenn alles glattgeht, dann werden heute in einem Jahr 40 Schüler in so einer Schule sitzen. Obwohl: Einige davon werden in einer Ecke lesen, wieder einige basteln oder Gameboy spielen. Ein paar werden aber auch in einer Lerngruppe Buchstaben malen oder subtrahieren üben.

Das Konzept der Ting-Schule basiert auf dem Grundsatz einer freien und demokratischen Bildung. Das heißt: Die Schüler entscheiden selbst, was sie wann lernen wollen. Manche lernen lesen mit 5 Jahren, andere eben erst mit 11 oder 12. Aber, und darauf kommt es an: Was sie lernen, lernen sie freiwillig.

„Wissen unter Zwang ist nur kurzfristig abrufbar. Deswegen haben Erwachsene auch das meiste, was sie in der Schule gelernt haben, vergessen“, sagt Anne Viezens, die zusammen mit ihrem Mann Toralf seit Jahren für eine solche Schule kämpft. 40 Schüler im Alter von 6 bis 16 Jahren wollen sich anmelden, ein Gebäude in Kreuzberg wurde bereits besichtigt, vier Lehrer stehen in den Startlöchern, weitere sind angefragt.

Was fehlt, ist die Genehmigung des Berliner Schulamts. Sollte sie erteilt werden, wäre die Ting-Schule die experimentellste unter den so genannten reformpädagogischen Schulen Berlins. Denn ihr Konzept orientiert sich an der Sudbury Valley School, die 1968 in Massachusetts gegründet wurde und mit einem radikal neuen pädagogischen Ansatz das Schulsystem der USA aufmischte: Lernen gelingt nur, wenn der Lernende sich den Gegenstand, die Gelegenheit und den Lehrer selbst wählen kann.

Ist denn jemand, der ohne feste Lernstrukturen, ohne Verbindlichkeiten in der Schule aufwächst, gerüstet für unsere Ellbogengesellschaft? Ja, meinen die Sudbury-Anhänger. Denn Sudbury-Schüler können zwar lernen, wann sie Bock haben, aber nicht tun, was sie wollen. Es gibt Regeln, an die sich jeder halten muss und die von den Schülern selbst bestimmt werden. Ob Müllbeseitigung, Matheunterricht oder Stänkern auf dem Hof – über alle Belange der Schule wird in einer wöchentlichen Schulversammlung abgestimmt.

Eine manchmal zeitraubende und mühsame Angelegenheit – aber die beste Schule fürs Leben, meinen die Viezens: „Sudbury-Schüler lernen von Anfang an, Verantwortung zu übernehmen. Sie akzeptieren Regeln, wenn sie Sinn machen, und verändern unsinnige. Das macht sie zu mündigen, selbstbewussten Bürgern mit Fantasie und Kreativität“, ist sich Toralf sicher. Gerade schwierige oder gewaltbereite Schüler haben auf Sudbury-Schulen gute Chancen. Laut Statistik landen 80 Prozent der Sudbury Valley School Absolventen auf dem College, 45 Prozent werden im Laufe ihres Lebens unternehmerisch tätig. Eine Quote, von der man an deutschen Gesamtschulen nur träumen kann.

Weltweit gibt es etwa 30 Sudbury-Schulen. In Deutschland scheiterten Gründungsinitiativen bis jetzt immer an den Behörden. Auch den Berliner Sudbury-Anhängern versetzte der Senat dieses Frühjahr einen Dämpfer und lehnte ihr Konzept ab. Komplette Altersmischung und totale Lernfreiheit, das war den Beamten dann doch zu viel. Inzwischen sind einige Eltern, darunter auch die Viezens, aus dem Verein Sudbury-Schule Berlin-Brandenburg ausgetreten und haben ein neues Konzept – das für die Ting-Schule – eingereicht. Es kommt den Auflagen der Beamten entgegen: Damit die Schüler auch Realschulabschluss oder später das Abitur ablegen können, orientiert sich die Ting-Schule am Berliner Rahmenlehrplan. Ab der 9. Klasse gibt es Noten – vorausgesetzt, die Schüler sind einverstanden.

Damit, so ist sich Anne Viezens sicher, steht der Gründung der freien demokratischen Ting-Schule nichts mehr im Weg. Zumal es auch von politischer Seite positive Signale gibt. „Solange die rechtlichen Vorgaben erfüllt sind, unterstütze ich das Vorhaben. Schulen, die das Diskursverhalten fördern, soll man eine Chance geben“, sagt der bildungspolitische Sprecher der Berliner Grünen, Özcan Mutlu.

Wie so ein Diskursverhalten in der Realität aussieht, kann man an der Freien Schule Pankow erfahren, wo demokratische Mitbestimmung auch eine Rolle spielt. Sie hat seit zwei Jahren zusätzlich zur Grundschule eine Sekundarstufe. Nächstes Jahr wird die erste 10. Klasse abgehen.

Mehr Infos unter www.freie-demokratische-schule-berlin.de und www.sudbury-berlin.de