„Keiner glaubt an Frieden“

Seit dem 11. 9. ist Israel amerikanischer und Amerika israelischer geworden, meint der israelische Publizist Tom Segev

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Herr Segev, wo waren Sie am 11. September 2001?

Tom Segev: In New York. Ich bin einen Tag zuvor hingeflogen, wie es sich für einen guten Journalisten gehört. Am Morgen rief mich jemand an und sagte, ich solle sofort den Fernseher anmachen. Am Anfang habe ich überhaupt nicht verstanden, was ich sah: War das ein Film?

Und dann?

Ich bin zu Ground Zero gegangen. Es war fürchterlich.

Damals sagten viele, nach dem 11. 9. würde nichts mehr so sein wie zuvor. Wie wirkt dieser Satz fünf Jahre später?

Ich dachte schon damals: Das stimmt nicht. Am nächsten Tag war ich im nördlichen Teil von Manhattan unterwegs und war erstaunt, wie das Leben weitergeht. Die Geschäfte waren offen, auch Disney-World. Es hat ein paar Tage gedauert, bis die Amerikaner den Schock gespürt haben. Ein Jahr später war ich noch mal dort und beeindruckt, wie normal das Leben wieder geworden war. Es gab viele US-Fahnen und den Kult um die Feuerwehrleute, die zu so etwas wie den neuen Cowboys geworden waren. Aber diese Normalität schien mir ziemlich israelisch.

Wieso?

Weil die US-Bürger die Einstellung hatten: Wenn es mich trifft, dann trifft es mich eben. Und wenn nicht, dann versuche ich eben mein Leben weiterzuführen. Auch die oft erhobene Behauptung, dass Amerika gehasst werde für etwas, was es sei – und nicht für etwas, was es tue –, schien mir eine israelische Reaktion zu sein.

Inwiefern?

Der Reflex: Wir sind die Guten, aber die Welt ist gegen uns und sie schlagen uns, eben weil wir gut sind – das kenne ich aus Israel. Später habe ich mit einem Freund über einen möglichen Krieg gegen den Irak debattiert und ihm den israelischen Rat gegeben, dass es leicht sei, ein Land zu erobern, aber sehr schwer, es wieder zu räumen.

Hat der 11. 9. die USA und Israel näher zusammen gebracht?

Aus israelischer Sicht sicherlich. Die Identifikation mit den USA war vorher schon stark, die Amerikanisierung der israelischen Gesellschaft ist eine prägende Entwicklung. Seit dem 11. 9. ist das noch stärker geworden, weil man dasselbe Unglück wie die USA erlebt zu haben schien.

Scharon hat gesagt: „Arafat ist unser Bin Laden.“

Ja, es wurde alles in einem Topf geworfen – als ob der Terrorismus eine einheitliche, homogene Bedrohung wäre. Das hat der Bush mit seiner „Achse des Bösen“ schon ziemlich gut hingekriegt.

Und mit dem Schlagwort vom Islamofaschismus?

Ja, auch. Beides sind Copyright-Ausdrücke, die irgendwelche spin doctors in ihren Büros erfunden haben, und die machen ihre Arbeit gut. Die Idee, dass wir die Guten sind, die anderen die Bösen, ist populär, wo die USA viel Einfluss haben. In Deutschland weniger als in Israel, in Frankreich noch weniger.

Markiert der 11. 9. für Israel ein einschneidendes Datum? Oder ist es nur ein Attentat unter vielen?

Es war wichtiger als die meisten Terroranschläge in Israel. Es gibt kaum einen Anschlag in Israel, der mit einem Datum erinnert wird. Man geht vielleicht mal in ein Restaurant und erinnert sich vage, dass da auch mal eine Bombe explodiert ist. Aber es gibt eigentlich keine Terrorerinnerungskultur in Israel. Die Erinnerung an den 11. 9. ist Teil des Zugehörigkeitsgefühls zu den USA. Viele Israelis empfinden den 11. 9. als Trauma – und wir sind sehr wählerisch mit den Ereignissen, die wir als Trauma begreifen. Wir haben ja genug davon.

Hatte die Annäherung zwischen den USA und Israel im Antiterrorkampf noch mehr Auswirkungen?

Mit dem „war on terror“ haben die Amerikaner ihre Position als moralische Autorität verloren. Sie können uns nicht mehr sagen, was wir tun sollen, denn sie sind durch den Terror zu ähnlichen Schlüssen gekommen wie Israel: Im Irak sind sie Besatzungsmacht, in Guantánamo machen sie es auch nicht besser.

Nach dem 11. 9. ist der Nahostkonflikt in ein globales „Kampf der Kulturen“-Szenario eingebettet worden. Ist die Kluft zwischen Israel und dem Rest der Welt deshalb gewachsen?

Das sagen viele, aber es stimmt nicht unbedingt. Die meisten Muslime auf der Welt sind keine Terroristen und es gibt Millionen von Muslimen, die den amerikanischen Traum teilen – zum Beispiel die meisten Palästinenser.

Fällt die „Kampf der Kulturen“-Rhetorik in Israel auf fruchtbaren Boden?

Nun, die Presse ist schon viel differenzierter als die Bush-Phrasen. Es gibt schon Bemühungen, die arabische Welt zu unterscheiden. Aber auch Gegenbeispiele: Im letzten Krieg etwa gab es keine Debatte darüber, dass die Hisbollah im Libanon der verlängerte Arm des Iran sei. Das mag so sein, aber es ist nie überprüft worden, jedermann war einfach davon überzeugt. Dabei wissen die meisten Israels wenig über die Hisbollah, genauso wenig wie vom Iran. Wir kennen nur diesen Clown, der den Holocaust leugnet, und diesen Führer von der Hisbollah, der uns im Fernsehen verspottet. Nasrallah ist wirklich raffiniert, er kennt die israelische Politik, unsere Mentalität und Sensibilitäten gut. In einer Zeit, in der die Politik sehr personalisiert wird, sind das zwei wichtige Symbolfiguren.

So wie Bin Laden.

Ja, und von dem wissen wir ja auch nicht viel. Ich bin sicher, dass die taz ihn gerne interviewen würde.

Natürlich.

Ich will damit sagen, dass wir von diesen Leuten eigentlich nicht viel wissen.

Man weiß von allen dreien, dass sie nicht gerade Freunde Israels sind. Ist das kein Grund zur Beunruhigung?

Klar, der iranische Präsident ist antisemitisch. Deshalb haben auch so viele Israelis mit Recht Angst vor ihm, ohne wirklich etwas über ihn zu wissen. Aber er will die Atombombe, er bezweifelt den Holocaust – vielleicht bereitet er also den nächsten Holocaust vor? Er bestreitet zwar, dass er die Atombombe will, aber warum sollen wir ihm das glauben? Da spielt eine tiefsitzende Holocaust-Angst mit.

Ist die Angst um die Existenz Israels heute größer als 2001?

Nein, eigentlich nicht. Das hat auch im Libanonkrieg keine Rolle gespielt.

Trotz der Katjuscha-Raketen, die in Nordisrael einschlugen?

Ja. Jeder weiß, dass die Katjuschas Israels Existenz nicht gefährden. Sie gefährden die Möglichkeit, ein normales Leben zu führen. Aber jeder wusste auch, dass das wieder aufhören würde. Der Glaube, dass Israel weiterexistiert, ist in Wirklichkeit tief verwurzelt.

Trotz des Terrors und der ungelösten Palästina-Frage?

Die meisten Leute glauben nicht an den Frieden. Aber sie glauben, dass Israel weiterexistieren wird.

Aber es fehlt ein positives, konstruktives Ziel?

Ja, absolut. Seit dem Libanonkrieg ist der Plan, auch Siedlungen in der Westbank zu räumen, völlig tot. Ein Jahr nach dem Abzug aus Gaza liegt jetzt ein riesiges „Wir haben es euch ja gesagt“ der Abzug-Gegner in der Luft, sowohl von rechts als auch von links. Leider haben sie Recht gehabt: Der einseitige Rückzug hat nicht funktioniert. Und das war genau der Plan, den Olmert für die Westbank im Sinn hatte.

Seit dem 11. 9. sind die USA nicht mehr an einer Lösung im Nahen Osten interessiert. Sie lassen Israel völlig freie Hand. Richtig?

Ja. Die Amerikaner haben diese diplomatische Fiktion namens Road-Map erfunden, nach der schon im vorigen Jahr im Herbst der endgültige Frieden zwischen Israel und Palästina herrschen sollte. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da im Weißen Haus jemand vor einem Blatt Papier sitzt, auf dem verschiedene Weltprobleme aufgelistet sind, und dann an der Stelle, wo Nahost steht, einen Haken macht und sich sagt: „So, das habe ich jetzt gelöst. Jetzt haben wir die Road-Map.“ Scharon hat Bush die Idee verkauft, dass wir uns einseitig aus Gaza zurückziehen und dafür große Teile der Westbank behalten dürfen – und das hat Bush gut gefallen. Es war ja auch so bequem für alle. Und Scharon hat den Rückzug eingefädelt – nicht als Staatsmann, der den Frieden entdeckt hat, sondern als General. Und Generäle verhandeln ja nicht mit ihren Partnern über ihre nächsten militärischen Züge. Er hat einfach gesehen, dass das eine Front ist, die man nicht halten kann. Vielleicht hat er das unter dem Einfluss der einstürzenden Twin Towers verstanden – dass man Terror nicht bekämpfen kann und dass es einen zu hohen Preis kostet.

Braucht Israel diesen permanenten Kriegszustand für seinen gesellschaftlichen Zusammenhalt? Weil sonst die ungelösten Konflikte im Inneren – etwa zwischen Säkularen und Religiösen – ausbrechen?

Nein. Es ist nicht so, dass die Israelis den Krieg brauchen, die Eroberung oder die besetzten Gebiete. Eine große Mehrheit war ja für den Rückzug aus Gaza. Es gibt eher eine Resignation, die daher rührt, dass niemand mehr an den Frieden glaubt. Seit Wochen haben die Medien versucht, eine Protestbewegung gegen den Krieg und die Regierung zu initiieren, doch es kamen nie mehr als 30 oder 40 Demonstranten. Aber kürzlich haben in Tel Aviv 60.000 für die beiden entführten Soldaten demonstriert. Sie wollten nur ihre Gefühle ausdrücken – ihre Identifikation mit den Familien der entführten Soldaten. Daran sieht man, wie familiär Israel noch sein kann.

Was haben die Demonstranten gefordert?

Dass die Soldaten wieder zurück nach Hause kommen. Mehr nicht. Eigentlich war es eine völlig unpolitische Kundgebung.

Interessant.

Ja, weil man nie 60.000 Israelis zusammenbringen könnte, die eine gemeinsame politische Forderung verbindet.