: „Äußerst problematisch“
Ministerpräsident Günther Oettinger will Chefredakteure für „nachhaltige Öffentlichkeitsarbeit“ anwerben
Günther H. Oettinger (CDU), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat Chefredakteure von regionalen Zeitungen brieflich aufgefordert, Mitglied im Unterstützerkreis für das umstrittene Projekt „Stuttgart 21“ zu werden. Für Oettinger hat der geplante Tiefbahnhof sowie die Neubaustrecke Stuttgart–Ulm „herausragende Bedeutung für die künftige Entwicklung Baden-Württembergs“. Für die Finanzierung des knapp drei Milliarden Euro teuren Projekts würden allerdings enorme Mittel, vor allem des Bundes, benötigt. Vor der Entscheidung im Spätherbst, schreibt der Ministerpräsident an Chefredakteure und andere „namhafte Persönlichkeiten des Landes“, halte er es für angezeigt, nach der Bestellung der Altpolitiker Lothar Späth und Walter Riester zu „Projektförderern“ nun „insbesondere durch eine nachhaltige Öffentlichkeitsarbeit die Verwirklichung beider Projekte zu befördern.“
Was sagt das über das Medienverständnis des Ministerpräsidenten in einem Land, in dem die CDU seit 50 Jahren regiert? „Dem Aufruf von Herrn Oettinger liegt eine äußerst problematische Vorstellung von der Funktion und der Unabhängigkeit der Presse zugrunde“, sagte Hans-Jürgen Bucher, Professor für Medienwissenschaft an der Uni Trier, der taz. „Die Aufgabe der Presse ist es, zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen, in dem sie für einen Abgleich der verschiedenen Meinungen sorgt. Man kann sie deshalb als Politiker nicht dazu aufrufen, eine bestimmte Position in dieser öffentlichen Meinungsbildung einzunehmen.“ Selbstverständlich könne eine Zeitung eine Linie haben. Die Mitgliedschaft eines Chefredakteurs in einem Unterstützerkreis sei aber „ein klarer Verstoß gegen die journalistische Unabhängigkeit.“
Oettinger beantwortete eine taz-Anfrage nach seinem Medienverständnis und der Zahl der Zusagen nicht. So bleibt abzuwarten, ob und wie viele Chefredakteure sich am heutigen Montag im Forum der Landesbank am (derzeitigen) Hauptbahnhof einfinden, um einen Mitgliedsausweis zu unterzeichnen.
Auf die Chefredakteure von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten kann er in diesem Fall nicht zählen. Zwar berichten beide zumindest nach Meinung von Kritikern sehr „Stuttgart 21“-freundlich. Beide Chefs sandten dem Ministerpräsidenten aber Absagebriefe. „Die Verzweiflung muss groß sein, wenn man Veteranen wie Späth aktiviert und Chefredakteure zu offiziellen Öffentlichkeitsarbeitern ernennen möchte“, sagte Boris Palmer, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Stuttgarter Landtag und Kritiker von „Stuttgart 21“. Andererseits bedauere er die Absagen der Stuttgarter Medien. Palmer zur taz: „Das hätte immerhin Klarheit gebracht.“ Pu