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Archiv-Artikel

Das Dorf der Königin

taz-Serie „Bezirkssache“ (Teil 11): Ist Reinickendorf ein „schlafender Riese“, wie die Bürgermeisterin sagt? Den meisten Berlinern ist der Nordwest-Bezirk Synonym für verschlafene Reihenhausidylle. Die gibt es – genauso wie prosperierende Firmen, Villenviertel und Quartiere am Rand des sozialen Abstiegs

Reinickendorf spiegelt die Teilung der Welt: reicher Norden, armer Süden

VON WALTRAUD SCHWAB

Ein „schlafender Riese“ ist Reinickendorf für Marlies Wanjura, die Bezirksbürgermeisterin. Schlafend, weil sich seine Popularität in Grenzen hält. Schon der Wedding liegt für viele Berliner jenseits ihres Horizonts, erst recht aber die Gegend, die sich nördlich anschließt. Und ein Riese ist der Bezirk in der Tat: Zehn Prozent des gesamten Stadtgebiets gehen auf sein Konto.

Reinickendorf ist ohnehin auf Superlative getrimmt. „Wir haben das meiste Grün, die zweitgrößte Wasserfläche und mit Lübars das älteste Dorf in der Stadt“, zählt die Christdemokratin Wanjura auf. Nicht zu vergessen: Auch das älteste Naturdenkmal Berlins steht im Bezirk. Es ist die rund 900 Jahre alte Dicke Marie, eine Eiche. Alexander und Wilhelm Humboldt, die berühmtesten Reinickendorfer, haben den Baum am Tegeler See vor 200 Jahren angeblich nach ihrer Köchin benannt.

Derartige Besonderheiten erwähnt Wanjura allerdings lieber in Nebensätzen. Der Hauptsatz hat ein anderes Subjekt: Reinickendorf, die Boomtown, Reinickendorf, das Berliner Schanghai. Wichtigstes Thema der Bürgermeisterin ist die Wirtschaft. Für die öffnet der Bezirk seine Türen. „Wir waren der erste Bezirk, der einen Wirtschaftsberater angestellt, eine Stabsstelle Wirtschaftspolitik eingerichtet hat.“ Erster sein, das ist wichtig. „Sie verspricht den Investoren viel, und die anderen Bezirksamtsmitglieder können sehen, wie sie es umsetzen“, kritisiert Bildungsstadtrat Peter Senftleben, Spitzenkandidat der SPD.

Die 61-Jährige Wanjura steht dem Bezirk seit elf Jahren vor. „Sie führt sich wie eine Königin auf“, sagen politische Gegner. Die Rolle der Obersten füllt die ehemalige Krankenschwester mit Begeisterung aus: „Ich habe eine 70- bis 80-Stunden-Woche, Stundenlohn 6 bis 7 Euro“, sagt sie. Mit dieser Energie will sie den Bezirk nach vorne bringen.

„Reinickendorf – in Berlin ganz oben“, heißt der Werbeslogan des Bezirksamts. Im Wettbewerb „wirtschaftsfreundlichster Bezirk“, den die Handwerkskammer ausschrieb, war der Bezirk Sieger. Und nirgendwo in Berlin, verkündet man stolz, komme so viel Einkaufsfläche auf einen Bewohner wie hier. Zudem sei es gelungen, beim Nettoeinkommen der Privathaushalte einen Spitzenplatz von durchschnittlich 1.700 Euro zu erobern. Das ist zwar nur die eine Seite der Medaille, denn der Bezirk hat auch Kieze, die sich sozial stark verschlechtern, in denen die Armut zunimmt. Aber die Kunst besteht darin, dies auszuklammern.

Dass Wanjura im Wirtschaftsbereich Verdienste hat, billigen ihr aber auch ihre Gegner zu. Sie hat runde Tische mit Unternehmern und Handwerkern eingerichtet. Sie fördert Schülerfirmen und Schulpatenschaften von Firmen, damit Jugendliche anders ans Arbeiten herangeführt werden. Und weil sie weiß, dass der Tourismus für Reinickendorf mit seinen sieben Prozent Wasserflächen und ebenso viel Wald ein echtes Potenzial darstellt, kommt auch das Thema Umwelt vor.

Aus Sicht Wanjuras läuft es in Reinickendorf prima. Bekannte Firmen sitzen hier – Alba, Bilfinger & Berger, Motorola, Otis, Underberg, Oracle – und sponsern, damit das Image stimmt, gern die Hochglanzbroschüren des Bezirks. „Meine Güte“, sagt SPD-Herausforderer Senftleben, „Sponsorengelder sind wichtig, aber sie sollen sie in die Schulen stecken, nicht in Publikationen, die das Papier nicht wert sind.“

Wird Wanjura auf die ärmeren Kieze rund um den Kurt-Schumacher-Platz und die Residenzstraße angesprochen, verfinstert sich ihre Miene. „Wenn Sie von Verslumung schreiben, kriegen Sie von mir einen Leserbrief“, kündigt sie an. Dabei ist in Reinickendorf längst nicht alles so rosig. „Bei uns wiederholt sich die Teilung der Welt in Arm und Reich“, sagt Anke Petters, Fraktionsvorsitzende der Reinickendorfer Grünen. Im Norden die Reichen, im Süden die Armen. Der Süden, das sind der namensgebende Ortsteil Reinickendorf und das südliche Tegel. Hier gibt es Blockrandbebauung, hier lebt die Hälfte der Bezirksbürger auf wenig mehr als fünfzehn Prozent der Fläche. Im Norden herrscht Einfamilienhaus- und Villenidylle.

Dass die sozial schwachen Gegenden jene sind, die in der Einflugschneise des Flughafens Tegel liegen, will die Bürgermeisterin in keinen Zusammenhang bringen. „Die Probleme sind viel älter. Das waren schon vor 80 Jahren Arbeiterviertel.“ Dabei gibt es Untersuchungen, die bestätigen, dass der Fluglärm eine enorme Belastung für die Bevölkerung ist. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Sollte Senftleben Bürgermeister werden, stehen die sozial belasteten Gebiete ganz oben auf seiner Agenda, verspricht der SPD-Mann.

Geht es nach Wanjura, wird der Flughafen Tegel vielleicht gar nicht geschlossen. „Was 2011 ist, wenn der BBI in Schönefeld eröffnet, wird man sehen“, meint sie. Damit gibt die Bürgermeisterin dem diffusen Gefühl vieler BerlinerInnen, dass sich Politiker niemals an die eigenen Beschlüsse halten, eine Stimme. „London und Moskau haben auch drei Airports“, sagt sie. Auf den Einwand, dass dort mindestens dreimal so viele Menschen wie in Berlin wohnen, geht sie nicht ein.

Wanjura ist eine Lokalgröße. In die überregionalen Medien schaffte es ihr Sozialstadtrat Frank Balzer: Er führte vor ein paar Jahren Prüfdienste ein, die herausfinden sollten, ob Sozialhilfeempfänger die Stütze zu Unrecht erhalten. Er tat es mit einer Vehemenz, die nahelegte, dass jeder Hilfeempfänger im Grunde versuche, die Behörde zu hintergehen. Durch die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe ging der Prüfdienst an die Jobcenter. Seither ist es ruhiger um Balzer. Das Gefühl, dass armen Leuten im Bezirk ein rauer Wind entgegenweht, ist geblieben.

Eigentlich gilt als sicher, dass die CDU erneut die Wahl gewinnt – wenn auch mit weniger Stimmen. Wanjura, die derzeit im Rollstuhl sitzt, weil sie sich den Fuß gebrochen hat, kann gar auf einen Mitleidsbonus hoffen. Als eine, die schon elf Jahre den Job macht, „muss ich nicht mehr so viel Wahlkampf machen und überall Funkenmariechen spielen“, sagt sie. Die SPD rechnet anders: Bei weniger CDU-Stimmen könnte Wanjura ernsthafte Konkurrenz bekommen, wenn die Opposition eine Zählgemeinschaft bei der Wahl des Bürgermeisters einginge. Das klingt nach Palastrevolution.