: Eine tief verstaute Sehnsucht
NOVELLE Mit einer Prise Komik des Unbeholfenen: Bart Moeyaert schreibt über Verlangen und einen nie eingelösten Liebeswunsch – „Graz“
Lang ist die Liste der Auszeichnungen, die der flämische, 1964 geborene Autor Bart Moeyaert bekommen hat. Hierzulande lobten die Feuilletons seine Sprache der Andeutungen und Verdichtungen, mit der er seine oft traurig-melancholischen Themen erzählt. Wenn sein Name dennoch vielen unvertraut sein dürfte, liegt es daran, dass seine Bücher und Theaterstücke sich bislang an Kinder und Jugendliche richteten. Nun aber ist sein erstes Prosastück für Erwachsene erschienen, ein schmaler Band, eine Novelle: Haben es Erzählungen schon schwer, scheint die Novelle aus der Zeit gefallen – erfreulicherweise kümmert das den Autor und den Wiener Luftschacht Verlag nicht.
Hermann Eichler ist der Name des Ich-Erzählers, dem man durch eine Winternacht in Graz folgt. Ein in sich verschlungener, in abtrennender Einsamkeit lebender Mann, ganz der Sohn seines Vaters, dessen Apotheke er übernommen hat: „Manchmal fiel mir auf, dass ich nicht Herr über mein Leben war. Manchmal dachte ich, dass ich das Leben meines Vaters führte. Manchmal sah ich, dass ich stillstand.“
Ein Unfall vor der Apotheke verwandelt den Stillstand in inneren Aufruhr: Ein Mädchen ist mit dem Fahrrad gestürzt, Hermann findet seine Brieftasche, und als er am Passfoto erkennt, dass „es Jungen (gibt), die Rosen und Krapfen und Orangen kaufen und aussehen wie außergewöhnlich hübsche Mädchen“, kann er in dieser Nacht keine Ruhe mehr finden.
Die Ängste, die er sonst nicht gern beim Namen nennt, wie es an einer Stelle heißt, brechen sich Bahn. Erinnerungen an den Vater, der demütigt, ohne es überhaupt zu merken. Aber auch eine so tief verstaute Sehnsucht überwältigt den Körper und die Seele, dass der Apotheker Eichler, der immer alles im Lot und in Ordnung hält und Rat zu geben weiß, das sich selbst Abhandengekommensein mit überwältigender Heftigkeit erleidet. Jochen heißt der mit dem Rad verunglückte Zwanzigjährige und in ihn projiziert der Ich-Erzähler seinen ungeheuren, weil noch niemals eingelösten Liebeswunsch. „Ich war davon überzeugt, dass es schön sein musste, jemanden zu lieben, der Musik liebte oder Kinokarten aufbewahrte. War es wirklich wahr, dass man schwimmen nie verlernte, und wenn ja, konnte ich es noch, und konnten wir es zusammen? Mir wurde klar, dass noch nie jemand ein lachendes Gesicht neben meine Namen gezeichnet hatte.“
Es ist ganz ungewöhnlich, wie Moeyaert die Selbstbetrachtung seines Protagonisten gestaltet, die auch das vermeintliche Außen, den Körper, miteinbezieht. In einer Szene spiegelt sich Hermann in der Scheibe seiner Apotheke, und die genaue Betrachtung des fast nackten Körpers offenbart ein nie erfahrenes Begehrtwerden und nie gelebtes eigenes Begehren.
Etwas wird in dieser Nacht geschehen, was zuvor nicht möglich war. Natürlich kann es keine Erlösung sein. Aber ein Aufbrechen des Stillstands.
Es ist der Sprache des Autors zu verdanken, dass der Schmerz seines Erzählers intensiv ist und doch nicht erschlägt; dass das Eingestehen der eigenen Unsicherheit, der Schwäche und des ungestillten Verlangens nie ermüdend oder selbstmitleidig wirkt. Im Gegenteil hat Moeyaert eine darin ungewöhnliche moderne männliche Figur geschaffen, die anrührt. Er schreibt klar, es gibt kein Pathos, aber unverstellte Traurigkeit, in die sich manchmal auch diese Prise Komik des Unbeholfenen mischt.
Auch wenn man sich bei Moeyaert gut vorstellen kann, dass die Grenzen der Genres fließend sind: Wie schön, wenn man bald ein zweites „Erwachsenen-Buch“ von ihm zur Hand nehmen könnte, dann die längere Strecke, den Roman. CAROLA EBELING
■ Bart Moeyaert: „Graz“. Aus dem Niederländischen von Doris Mayer. Luftschacht, Wien 2013, 112 Seiten, 16,40 Euro