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Archiv-Artikel

Geraubte Privatheit

DRAMA Lars-Ole Walburg inszeniert „Corpus Delicti“ von Juli Zeh in Hannover als Science-Fiction-Comic

Bereits im ersten Bild macht Lars-Ole Walburg klar, dass er Juli Zehs Albtraumvision einer Gesundheitsdiktatur für gar nicht so weit entfernt von unserer gesellschaftlichen Realität hält. Große marmorne Steinquader verschließen das Bühnenportal. Videobilder aus dem Hannover von heute flimmern darüber. Menschen huschen durch die Stadt. Ihre Körper schimmern in verschiedenen Farben, aufgenommen von einer Art Wärmebildkamera – es gibt keine Intimsphäre mehr, der gläserne Bürger, er ist bei Walburg keine 2084-Vision, sondern Realität.

Das ist für den Leiter des Schauspiels Hannover Grund genug, um Zehs in den letzten Jahren ziemlich abgehangenes Stück zurück auf die Bühne zu holen. Es ist ein moralisierendes Werk um eine junge Frau, die der Selbstmord ihres Bruders antreibt, sich mit dem diktatorischen Gemeinwesen anzulegen. Der Schauplatz ist ein Staat, in dem die perfekte genetische Gesundheit das höchste Rechtsgut ist, hinter dem alle anderen, wie zum Beispiel das auf Privatsphäre, zurücktreten müssen. Das Zerrbild einer gleichgeschalteten Gesellschaft, in der vom Journalisten bis zur Richterin alle an einem Strang ziehen, ist mit vielen Klischees beladen. Ziemlich wenig Substanz, dafür ordentlich gut gemeinte, aber wenig differenzierte Systemkritik.

Walburg nimmt das ernst und baut daraus eine Art Comic-Version einschlägiger achtziger Jahre Science-Fiction-Thriller. Die Marmorwand kracht nach hinten, dafür wird in der Mitte eine Art Rohr installiert (Bühne: Kathrin Frosch). Mia Holls (Rebecca Klingenberg) steriles Apartment mit runden Wänden und Sofa droht beständig zu kippen und ins Rollen zu geraten. Ihr fragiler Halt in dieser Gesellschaft wird durch die Rückkehr ihres untoten Zombie-Bruders (Sebastian Grünewald) bedroht, der immer wieder seine Unschuld beteuert. Und durch das Insistieren der schnittigen, karrieregeilen Richterin (Sarah Franke). Pflichtverteidiger Rosentreter (Sebastian Schindegger) sieht im beigefarbenen Sakko und mit Langhaarmähne zwar aus wie ein Öko von gestern, hat aber zum Schluss auch nicht den Mut, Mia wirklich zu verteidigen. Die endet in der Folterzelle als Märtyrerin, so kann das gehen, wenn man als Einzelne die Interessen der Gemeinschaft infrage stellt.

Zum Schluss tritt der tote Bruder noch in den Publikumsraum und postuliert: „Das ist doch alles schon passiert“ und „Werden wir uns fragen, warum wir nichts unternommen haben, als wir noch konnten?“, als ob wir auch im Hannover 2014 kurz vor der Errichtung einer absolutistischen Diktatur stünden.

Was diese Pop-Revue mit unserer gesellschaftlichen Realität zu tun hat, bleibt im Dunkeln. Der Programmheftverweis auf Edward Snowdens Enthüllungen, die zeigten, „dass wir längst in einer ähnlich umfassenden Kontrolle angekommen“ seien wie im Stück, offenbart einen peinlich-undifferenzierten Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und das deutsche Rechtssystem. So wie überhaupt der ganze Abend wirkt wie eine große gesellschaftskritische Attitüde, die sich die Mühe spart, sowohl in der Fiktion im Stück als auch in der Wirklichkeit ins Detail zu gehen, es uns dafür aber mit viel Musik hübsch unterhaltsam macht. Das Schauspiel Hannover, das es einst verstand, mit Hüttendörfern auf dem Ballhof-Vorplatz geschickt und konkret das Establishment der Landeshauptstadt zu provozieren, ist mit diesem Abend im flachen, künstlerischen Mainstream angekommen. Und tut mit der banalen Botschaft, dass Diktatur irgendwie blöd ist, wirklich niemandem mehr weh!

ALEXANDER KOHLMANN