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Archiv-Artikel

Nächstes Buch in Jerusalem

MESSIAS Facettenreiche Komik: In seinem neuen Roman „Andernorts“ erkundet der Schriftsteller Doron Rabinovici jüdische Identitäten

VON NINA APIN

Hoch in der Luft, irgendwo zwischen Tel Aviv und Wien, verwandelt sich der jüdische Soziologe Ethan Rosen in Johann Rossauer. Genervt vom Identitätsgerangel seiner umsitzenden Landsleute, gibt sich Rosen im Gespräch mit einer jungen Frau als Österreicher Goj aus. Dumm nur, dass ihm die Frau schon bald im Wiener Freundeskreis wiederbegegnet. Und das ausgerechnet, nachdem Rosen mit einer Zeitungspolemik gegen einen österreichischen Rivalen eine Kontroverse über jüdische Erinnerungskultur entfacht hat. Von da ab gerät Rosens Leben aus den Fugen. Erst bemerkt er, dass die These, für die er den Kollegen Rudi Klausinger des Antisemitismus bezichtigt hatte, seine eigene war. Dann konkurriert dieser Klausinger auch noch mit ihm um den Institutsvorsitz. Als Klausinger schließlich am Krankenbett seines Vaters in Tel Aviv auftaucht und behauptet, mit ihm verwandt zu sein, stürzt Rosen in eine tiefe Krise.

Mit facettenreicher Komik erzählt der in Israel geborene Wiener Schriftsteller Doron Rabinovici von der Identitätssuche des in Israel geborenen Wiener Historikers Ethan Rosen. Slapstickhaft die Flugzeugszene, als ein fetter Orthodoxer mit seinem im Gebet schaukelnden Hintern den Durchgang zur Businessclass blockiert. Böse die Antwort eines jüdischen Schuljungen auf Klassenfahrt im Lager, als ihm ein Mitschüler verbieten will, die Gaskammer mit iPod zu betreten: „Willst du mich etwa daran hindern, in die Gaskammer zu gehen, du Nazi?“

Rabinovici jongliert so geschickt mit jüdischen Selbst- und Fremdbetrachtungen, dass man sich beim Lesen immer wieder ertappt fühlt: Hat man gerade über einen typisch jüdischen Witz gelacht oder über ein Klischee? Ist dieselbe Kritik an Auschwitz-Reisen für Schulklassen antisemitisch, wenn sie statt von einem jüdischen von einem nichtjüdischen Wissenschaftler „aus dem Geburtsland des Führers“ geäußert wird? Und wer bestimmt eigentlich, was „jüdisch“ ist?

Obwohl die Romanhandlung vordergründig oft daherkommt wie ein überdrehter Film der Coen-Brüder, macht sie immer wieder unerwarteten Einsichten Platz über Erinnerungskultur, Antisemitismusdebatten und den Nahostkonflikt. Der Wissenschaftler und Atheist Ethan Rosen arbeitet sich an so ziemlich allem ab, was jüdische Identität heute umfasst: an seinen vereinnahmenden Eltern Dina und Felix Rosen, die den Holocaust überlebt haben; seinem von Krieg und religiösem Fanatismus geprägten Heimatland und seinem Gefühl, nie irgendwo zu Hause zu sein. So sehr sich Rosen bemüht, den Ballast eines jahrhundertealten Schicksals abzuwerfen, so sehr sehnt sich der vaterlos aufgewachsene Judaismus-Experte Rudi Klausinger danach, Teil der weltweiten jüdischen Familie zu werden.

Wovor ihn Rosen warnt: „Das Judentum ist eine Alterserscheinung. Diese Jungen, die zunächst mit freiem Antlitz und frischen Ansichten in die Welt stürmen, werden irgendwann müde, und ihre Gesichter zerfließen, ihre Nasen werden länger, und ihre Augen trüben sich ein, bis alle meinen, sie schauten abgeklärt. So werden sie zu alten Juden. Und sie, die nie an Gott glaubten, die über Koalition und Armee lästerten […] und Joints rauchten, zünden unversehens am Schabbat die Kerzen an, segnen Brot und Wein […] und dann beginnen sie auf einmal die überkommenen Ressentiments und ihre eingefleischten Ängste zu lieben.“

Es kommt schließlich anders. Klausinger tritt nicht zum Judentum über, die Verwandtschaftsverhältnisse verkomplizieren sich weiter. Und der kühne Plan eines ultraorthodoxen Rabbiners, aus der DNA von Rosens altem Vater den Messias zu klonen, scheitert am Ende an Felix Rosens Tod. Beim Begräbnis ist es der Goj Klausinger, der die richtigen Worte für den Alten findet. Und dabei auch für das Grundgefühl dieses Romans über jüdische Identitätssuche: „Er ging nicht in die Synagoge. Er lebte nicht nur in Israel. Er arbeitete auf allen Kontinenten und mit Menschen aus vielen Ländern. Sein Jerusalem war immer andernorts und überall zugleich. Er war im Zwischenraum zu Hause, wo ein Mensch auf den anderen trifft.“

Doron Rabinovici: „Andernorts“. Suhrkamp, Berlin 2010, 285 Seiten, 19,90 Euro