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Archiv-Artikel

Meister werden muss nicht sein

NIE WIEDER KARNEVAL Während der Medienhype um Tabellenführer Mainz 05 kuriose Ausmaße annimmt, bleiben Mannschaft und Fans erstaunlich gelassen

Ein Bild von Trainer Thomas Tuchel mit Meisterschale können die 05er derzeit gar nicht gebrauchen

AUS MAINZ MICHAEL BRÜGGEMANN

Thomas Tuchel wirkte nicht begeistert über das Gastgeschenk aus Italien. Ein Fernsehteam des Senders Sky Italia fing den Coach von Mainz 05 nach dem Training ab. „Ganz Italien findet, Sie haben die Meisterschale verdient“, sagte der Reporter und überreichte Tuchel einen silbernen Teller aus Pappmaché. Der Sportlehrer lächelte höflich. Dann faltete er das Präsent eilig zusammen und schob es in die Tasche seines Trainingspullovers.

Ein Bild des Trainers mit Meisterschale können die 05er derzeit nicht gebrauchen. Spätestens seit dem Sieg gegen Branchenprimus Bayern München am vergangenen Samstag blickt die Republik nach Mainz. Von der „Mainzer Revolution“ spricht die FAZ, der Spiegel schickt Redakteure an den Bruchweg und Bild spekuliert über den Meistertitel. Beim Training am Dienstag standen vier Kamerateams hinter der Werbebande, am Donnerstag schon sieben – trotz Nieselregen.

„So was hab ich noch nie erlebt“, sagt Klaus Mechler, 66, der mit seinem Sohn das Training beobachtet. Sonst kämen meist nur ein paar Rentner, Schüler, eine Handvoll Lokaljournalisten. Das Mainz nun Spitzenreiter ist, kümmert ihn wenig: „Hauptsache wir stehen vor Frankfurt und Lautern.“ Während die Medien abheben, bleiben die Fans in Mainz erstaunlich gelassen.

„Meister werden muss hier keiner“, sagt Christian Gomolzig, der am Abend in der „Zeitungsente“ hockt, einer unter FSV-Fans beliebten Kneipe in der Mainzer Neustadt. Der 47-Jährige arbeitet im Vorstand der Fanvereinigung „Supporters“, er weiß, was die Anhänger umtreibt – oder auch nicht. „Außerhalb wird mehr Bohei um die Tabellenführung gemacht als in Mainz. Wir freuen uns, aber wir wissen: Es geht nicht immer so weiter.“

So viel Abgeklärtheit unter Fans ist selten. Pfiffe gab es in Mainz bislang selbst nach Durststrecken nicht. Allerdings war der Verein auch noch nie Spitzenreiter in der Bundesliga. Ob sich nach einer Niederlagenserie nicht doch Enttäuschung breitmacht, weiß niemand so genau. Angst vor einem Einbruch, wie ihn Samstagsgegner Hoffenheim nach der Herbstmeisterschaft 2008 erlitt, haben die Mainzer aber nicht. Der Verein will trotz Medienhype weitermachen wie bisher – mutig, nicht übermütig. „Träumen ist erlaubt, aber niemand erwartet von uns die Meisterschaft oder das internationale Geschäft“, sagt Manager Christian Heidel. „Ich bin mir sicher, dass die Mannschaft auch nach der ersten Niederlage gefeiert wird.“

Sollten die Mainzer im nächsten Jahr tatsächlich den Sprung ins internationale Geschäft schaffen, würden aber wohl selbst die Erwartungen der nüchternsten Mainzer Fans steigen. Noch aber gelten in Mainz nicht die üblichen Gesetze der Branche. Das liegt auch an der Kontinuität, mit der der Verein geführt wird. Seit zwei Jahrzehnten regiert dieselbe Vereinsspitze um Präsident Harald Strutz und Manager Heidel. Machtkämpfe, wie sie andere Vereine erschüttern, sind undenkbar. Gemeinsam haben Vorstand und Fans schwere Zeiten durchlitten: Zweimal scheiterte Mainz 05 haarscharf am Bundesligaaufstieg, dümpelte jahrelang im Zweitligakeller. Da freut man sich, schon jetzt rund die Hälfte der für den Klassenerhalt nötigen Punkte gesammelt zu haben.

„Wir wollen die deutsche Top-Adresse für Spieler zwischen 18 und 23 werden“, sagt Christian Heidel. Und beweist auch ohne Scouting-Abteilung ein Händchen für kluge Transfers. Dass die jungen Himmelsstürmer nicht abheben, findet Trainer Thomas Tuchel anscheinend die richtigen Worte. „Schreiend habe ich den noch nie gehört“, sagt Trainingsgast Klaus Mechler.

Für Zufriedenheit im Kader sorgt auch die Rotation. Selbst nach Siegen bringt Tuchel neue, frische Spieler. Das Wechseln hält nicht nur die Spieler bei Laune: Anders wäre das aggressive Forechecking, mit dem Mainz selbst den Bayern die Laufwege versperrte, nicht möglich.

Mainz wird nun endlich auch wahrgenommen als Ort, wo fußballerisch fortschrittlich gearbeitet wird. „Die Außenwahrnehmung verändert sich gerade“, sagt Christian Gomolzig. „Wir sind nicht mehr nur der lustige Karnevalsverein.“ Über sich selbst lachen können die Fans trotzdem. Neuerdings sprechen sie augenzwinkernd vom „Projekt 102“: 102 Punkte am Saisonende oder 34 Siege am Stück.