: Ein Recht auf Nichtwissen
Über Ergebnisse von genetischen Untersuchungen sollen nur die Patienten selbst verfügen können. Das sieht der Entwurf der Grünen für ein Gendiagnostikgesetz vor. Auch Arbeitgeber und Versicherungen sollen keinen Zugriff auf die Daten bekommen
VON KLAUS-PETER GÖRLITZER
Im Koalitionsvertrag haben CDU, CSU und SPD gesetzliche Regelungen für genetische Untersuchungen angekündigt, „um die Persönlichkeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu schützen“ und die „Qualität der genetischen Diagnostik zu gewährleisten“. Den Worten sind bisher keine Taten gefolgt.
Derweil schaffen MedizinerInnen und Firmen laufend Fakten: Rund sieben Millionen Euro wurden 2005 mit genanalytischen Tests in Deutschland umgesetzt, schätzt der Verband der Diagnostica-Industrie. Die Bündnisgrünen im Bundestag referieren dagegen den Stand der Wissenschaft: „Bis auf sehr wenige Ausnahmen liefern genetische Untersuchungen keine Gewissheit, ob eine Krankheit ausbrechen wird“; gerade prädiktive Gentests, die das Risiko einer Erkrankung vorhersagen sollen, seien „mit sehr großen Unsicherheiten verbunden“. Die kleine Oppositionsfraktion will der großen Koalition nun auf die Sprünge helfen: Sie plant, im Herbst ein Gendiagnostikgesetz ins Parlament einzubringen.
Im grünen Entwurf ganz vorn steht das „Diskriminierungsverbot“: Wegen seiner genetischen Eigenschaften dürfe niemand benachteiligt werden. Der Anspruch wird im Versicherungssektor eingelöst. Weder vor noch nach Vertragsabschluss dürfen Assekuranzen von einem Kunden genetische Informationen verlangen oder verwerten.
Ein Verbot soll auch vor Einstellungen gelten; kein Arbeitsplatzbewerber darf zum Gencheck gezwungen werden oder sich durch freiwillige Tests einen vermeintlichen Vorteil verschaffen. Bei Vorsorgeuntersuchungen an riskanten Arbeitsplätzen wollen die Grünen allerdings genetische Analysen erlaubt sehen. Wer den Test verweigert, soll dies ohne Nachteile tun können – der Chef darf ihn deshalb nicht kündigen, versetzen oder am beruflichen Aufstieg hindern.
Viele Passagen des Gesetzentwurfs offenbaren weniger Bedenken. So bahnen die Grünen den rechtlichen Weg für genetische Reihenuntersuchungen bei Menschen ohne Anzeichen oder Verdacht einer Krankheit. Vorausgesetzt wird, dass der Test erfolgt und die gesuchte genetische Eigenschaft bedeutsam sein soll für eine Erkrankung, die therapierbar oder deren Ausbrechen vermeidbar sei. Identifiziert und dann präventiv behandelt werden sollen zum Beispiel Menschen mit Veranlagung für „Fettstoffwechselstörungen“.
Die Macht, per Richtlinien zu definieren, welche genetischen Eigenschaften für Krankheiten relevant, welche Reihenuntersuchungen sinnvoll und welche Gentests geeignet sein sollen – all dies soll einer „unabhängigen Gendiagnostik-Kommission“ anvertraut werden. Ausgewählt würden die neunzehn „Sachverständigen“ aus Medizin, Biologie, Recht und Ethik vom Bundesgesundheitsministerium.
Erkennbares Anliegen der Grünen ist es, die „Chancen“ für die Genforschung „zu wahren“. Mitunter tun sie noch mehr und stellen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zumindest zur Disposition. Zwar dürfen WissenschaftlerInnen genetische Daten und Proben von Körpersubstanzen nur gewinnen, beforschen und mindestens zehn Jahre aufbewahren, wenn der Betroffene zuvor aufgeklärt wurde und eingewilligt hat. Doch soll die Zustimmung nicht unbedingt auf ein konkretes Projekt begrenzt bleiben, wie dies etwa im Rahmen klinischer Studien Standard ist. Vielmehr mutet das grüne Gesetz potenziellen ProbandInnen weitere Einwilligungsvarianten zu: So sollen „SpenderInnen“ die wissenschaftliche Nutzung ihrer Proben und Daten auch pauschal einräumen können, etwa für „biomedizinische Forschung“ oder „allgemein zu Zwecken wissenschaftlicher Forschung“. Derartige Blankoschecks sind maßgeschneidert für Biobanken, betrieben von Universitäten, Biotech- und Pharmafirmen. Auf Vorrat sammeln sie Daten und Körpersubstanzen für Forschungsprojekte, deren Inhalte, Ziele und Verantwortliche zum Zeitpunkt der „Spende“ noch gar nicht feststehen. Das 1983 vom Bundesverfassungsgericht per Volkszählungsurteil etablierte Grundrecht, wonach jeder wissen können muss, wer was wann und zu welchem Zweck über ihn weiß, wird so praktisch unterlaufen. Das gilt auch für diese Klausel des grünen Gendiagnostikgesetzes: Sie besagt, dass ForscherInnen auf „bereits vorhandene“ Proben und Daten, die aus früheren medizinischen Untersuchungen stammen, ausnahmsweise ohne Einwilligung der Betroffenen zugreifen können, wenn die Zustimmung „nur mit unverhältnismäßigem Aufwand“ zu beschaffen ist. In solchen Fällen müssen die – zweckentfremdeten – Proben und Daten vor Beginn der Forschung anonymisiert werden.
Im Blick haben die Grünen auch „besonders schutzbedürftige Personen“. Bei Erwachsenen, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nicht persönlich einwilligen können, sollen Gentests zu Forschungszwecken legitim sein, wenn die „erwarteten“ Ergebnisse dazu beitragen können, eine „Erkrankung oder gesundheitliche Störung“ der Betroffenen zu behandeln oder deren Ausbrechen zu vermeiden. Außerdem muss jeweils der gesetzliche Vertreter zustimmen.
Schützen sollen die Paragrafen zudem Babys, Kinder und Jugendliche. Allerdings ermöglicht der grüne Entwurf, kranke Minderjährige mit Einwilligung der Eltern auch in Genforschungen einzubeziehen, die ihnen selbst nichts nützen. Außerdem dürfen „bereits vorhandene“ Proben und Daten gesunder und kranker Kinder im Rahmen fremdnütziger Projekte analysiert werden, „soweit dies zur Erforschung multifaktoriell bedingter Erkrankungen unerlässlich ist“. Solche Krankheiten, denen nicht nur, aber „auch genetische Dispositionen zugrunde liegen können“, sind nach Kenntnis der Grünen zum Beispiel Epilepsie, Autismus, Übergewicht, Diabetes, Asthma, Neurodermitis und chronisch entzündliche Darmentzündungen.
Mehrheiten für den Gesetzentwurf sind im Bundestag nicht in Sicht. Passagen des Papiers könnten im Laufe dieser Legislaturperiode aber recycelt werden – von Parteien und Lobbygruppen, die weniger über Bürgerrechte reden als die Grünen.