: Wein und Liebesspiel
MAIL AUS BORDEAUX Kein Heimweh – unsere frühere Praktikantin erkundet die Perle Aquitaniens, die sich stark im Wandel befindet
Wer bei Südfrankreich etwa an Marseilles mediterran herzliches Chaos mit einer ordentlichen Portion Hundekot auf den Straßen denkt, wird merken: Bordeaux, die „Perle Aquitaniens“, wie sie die Franzosen nennen, ist sauber und etwas spießig. Zumindest noch.
Der Bürgermeister Alain Juppé ließ die Ufer der Garonne, die durch Bordeaux fließt, in den letzten Jahren einer Runderneuerung unterziehen. Anstelle alter Lagerhäuser spiegeln sich nun in dem Fluss Grünflächen und eine über vier Kilometer lange Fußgängerzone aus Beton und grünen und rosaroten Kitschlaternen. Bordeaux ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des französischen Südwestens und galt bis zum 18. Jahrhundert als eine der wichtigsten Handelsstädte des Landes. Das möchte man heute noch spüren lassen. Der Versuch, die Uferpromenade zu verjüngen, ist gelungen.
Doch wirkt sie neben der Altstadt wie übermäßig geliftet. Denn in den engen Gassen des historischen Stadtkerns, der übrigens seit 2007 Unesco-Weltkulturerbe ist, kann man stilgerecht französisch flanieren und die prunkvollen Barockbauten bewundern. Neben der Einkaufsmeile Sainte-Catherine gibt es viele Seitenstraßen mit heimischen Läden. In einem der schummrigen Cafés, etwa im La Comtesse in der Nähe des Rathauses, meint man Sartre wie in seinem Pariser Café de Flore beim Schreiben entdecken zu können.
Der Spagat zwischen Alt und Neu gelingt Bordeaux dafür als Kulturzentrum. Für Liebhaber zeitgenössischer Kunst gibt es das Museum CAPC. Das Highlight der letzten Monate war hier die Wiederbelebung der Ausstellung Sigma, die über 40 Jahre lang, bis 1995, als das Rendezvous der französischen Avantgardisten gefeiert wurde. Bis in den März hinein können die Bordelaisen jetzt einen Blick in das Archiv werfen, bestückt mit über 10.000 Negativen, 300 Plakaten und vielen Kurzfilmen, hauptsächlich im Kontext der Studentenrevolte und der sexuellen Befreiung in den 70ern. Die Animation „Plus vite“ (1968) des britischen Regisseurs Peter Foldes zeigte den Wahnsinn des immer schneller werdenden Alltags, und Roland Lethems „Bande de Cons!“ (1970) provozierte mit der Aufnahme eines Herren, der 80 Minuten lang in der Nase bohrt.
Gänzlich harmonisch geht es dafür im Museum der schönen Künste zu. Zwischen den Gemälden europäischer Künstler vom 15. bis zum 20. Jahrhundert hat man hier die Möglichkeit, auch Arbeiten einheimischer Künstler zu sehen. Jean Dupas’ Art-déco-Schinken „La Gloire de Bordeaux“(1937) zeigt den Ruhm Bordeaux’ in warmen Rot- und Blautönen; der kubistische Maler André Lhote stellt in „Marin à l’accordéon“ (1929) einen Seemann mit seinem Akkordeon dar. Der maritime Charakter der Stadt scheint ihre Künstler inspiriert zu haben.
Jenseits von Idylle und Moderne befinden sich die ärmeren Viertel Bordeaux’ dank der beinahe 80.000 Studenten und der Zuwanderung aus Südeuropa und Nordafrika im Wandel. Früher noch gänzlich gemieden, sind Viertel wie Saint-Michel oder Victoire gefragte alternative Treffpunkte in Sachen Kunst, Musik und Wohnen. Die Bars und Restaurants sind voll, nicht nur am Wochenende. Und die reservierten Bordelaisen werden am Abend nach ein paar Flaschen ihres guten Weines auch lockerer.
Bei Heimweh hilft das Goethe-Institut, das viele deutsch-französische Veranstaltungen in der Region anbietet und unterstützt. So auch die Theaterkooperation der BüchnerBühne Riedstadt, der Théâtr’action aus Bordeaux und des polnischen Ensembles Teatr Biuro Podróży. Anfang März war die Premiere ihrer – auf Georg Büchners „Dantons Tod“ basierenden – großartigen, dreisprachigen Inszenierung von „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“. Während das junge Ensemble aus Hessen bei seiner Inszenierung Militärstiefel und steife Garderobe trug, zeigten die bordelaisen Schauspieler leicht bekleidet das Dantons Genussleben, samt Wein und Liebesspiel. Der Franzose Cyril Graux lief in der Hauptrolle regelmäßig nackt über die Bühne und sorgte im Publikum für Heiterkeit. Die Franzosen mögen’s eben gelassen. In Bordeaux mal mehr, mal weniger. SEYDA KURT