: Die Kiewer Pys’mennyki
UKRAINE Wer die Ukraine verstehen will, muss wissen, wer die „Kiewer Schriftsteller“ sind, in Sowjetzeiten eine böse Metapher für die überangepassten Intellektuellen. Nach der Unabhängigkeit übernahmen sie die ideologische Macht und wurden von Oligarchen instrumentalisiert
VON DMITRIJ BELKIN
Boris Pasternak, der geniale Lyriker, Autor von „Doktor Schiwago“, Nobelpreisträger und gebrochene sowjetischer Schriftsteller, starb 1960. Über den Tod des Weltschriftstellers informierte lediglich eine kurze Notiz in einer literarischen Zeitung. Sechs Jahre später schrieb Alexander Galitsch, der sowjetisch-jüdische Liedermacher, anlässlich des Todestages ein Gedicht. Darin hieß es, dass sogar die „Kiewer Schriftsteller“ (Pys’mennyki) es geschafft hätten, zu Pasternaks Trauerfeier zu kommen. Seien sie doch stolz darauf gewesen, dass Pasternak in seinem eigenen Bett starb – und nicht etwa in einem Lager.
Der Ausdruck „Kiewer Pys’mennyki“ war eine für Intellektuelle der UdSSR sehr verständliche, böse Metapher Galitschs und sogar ein Schlüssel zum Ganzen: Diese Pys’mennyki standen für das extrem Loyale, Dienliche Moskau gegenüber und zugleich für das Angepasste und Verräterische gegenüber den eigenen Andersdenkenden.
Kiew, die „Mutter der russischen Städte“, hatte in der Sowjetunion stets ein ambivalentes Image. Ein schöner, stilvoller Ort, in dem schon immer die Kommunisten dogmatischer, die Beamten korrupter, die Antisemiten viel antisemitischer und die Sowjets deutlich sowjetischer waren. Kiew war – nach Moskau und Leningrad – die dritte Hauptstadt der UdSSR, und die schwierigste. In Kiew stehen, wie in allen ukrainischen Großstädten, sowohl riesige Denkmäler für Bogdan Chmelnytski, der Mitte des 17. Jahrhunderts Teile der heutigen Ukraine zu Russland führte und mit seinen Kosaken im Kampf gegen Polen-Litauen Tausende von Juden umgebracht hatte, als auch für Lenin, der den ukrainischen Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert ideologisch und militärisch bekämpfte und jegliche Versuche einer ukrainischen Unabhängigkeit nach der Revolution von 1917 in Keim erstickte.
Pys’mennyki an die Macht
1991, im August und Dezember, nach der Deklaration der ukrainischen Unabhängigkeit und dem Ergebnis des Referendums über die Unabhängigkeit des Landes, erhielten in Kiew die Pys’mennyki Macht, zumindest die ideologische. Das Stadtzentrum, von den Nazis und Sowjets zerbombt und nach der Befreiung im Stil eines stalinistischen Empire (die Karl-Marx-Allee im heutigen Berlin-Friedrichshain wäre ein passender Vergleich) wieder aufgebaut mit dem „Maidan“ (Platz) der Unabhängigkeit, wurde mit riesigen romantisch-realistischen Figuren bestückt und zu einer Agora des ukrainischen Nationalismus. Dort finden sich Symbolik, Uniformen, Bücher und Porträts der faschistischen Ideologen wie Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch. Bandera brachte die Ukrainische Aufständische Armee an die Seite der Nazis. Sie war unmittelbar an Massenmorden an Juden und Polen in Wolhynien beteiligt. Die Partei Swoboda von Oleg Tjahnybok leitet ihre politische Genealogie direkt von Banderas Bewegung her. Wenn man gut suchte auf dem Maidan, waren dort auch russische Übersetzungen von Hitler und Rosenberg käuflich zu erwerben.
Es gibt ein böses Klischee über ukrainische Unabhängigkeitsbewegungen des 20. Jahrhunderts in Kiew: Sie seien alle operettenhaft, nicht ernst, kostümiert gewesen, irgendwie seltsam. 2004, nach dem Sieg der Orangen Revolution in Kiew, erzählte mir meine damalige Vermieterin dort (ich hatte einen längeren Archivaufenthalt im postrevolutionären Kiew), eine erfahrene und starke ukrainisch-jüdische Dame: Sie sei absolut für die Revolution, für ihre PolitikerInnen. Auch ihr Kater, Busik, habe die ganze Zeit eine orangefarbene Schleife getragen – das war ein Höhepunkt des Einflusses der Pys’mennyki in Kiew. Meine Vermieterin, die denkbar Schweres erlebt und viele Verwandte im Holocaust verloren hatte, war bitter enttäuscht, als wir uns einige Jahre später wieder getroffen haben, die Früchte der Revolution plötzlich keine mehr waren und ihre ehemaligen HeldInnen nicht minder korrupt als ihre neuen Feinde, Kutschma und Janukowitsch.
Der heutige ukrainische Nationalismus propagiert im Stil des 19. Jahrhunderts eine angebliche Harmonie zwischenmenschlicher Beziehungen. Dafür gibt es ein schönes ukrainisches Wort: zlahoda. Man lebe harmonisch und eben viel „europäischer“ in der Ukraine, im Unterschied zu dem brutalen „Nachbarn im Norden“. Aber auch das ist Ideologie und die Unwahrheit der Kiewer Pys’mennyki, der Überangepassten. Die historische Wahrheit ist, dass ein selbstkritisches Bekenntnis zu der postsowjetischen Realität, in der sowohl Russland als auch die Ukraine zweifelsohne bis heute leben, nie ein Teil der Denkweise der ukrainischen nationalistischen Intellektuellen war. Sie suchten das „Sovok“ (ein verachtendes Wort für alles Sowjetische) völlig irrtümlich stets bei den anderen. Bei Putin. Bei Janukowitsch. Nie bei sich selbst, bei ihrer situativen Loyalität, die stark an Zynismus grenzt.
Nach dem blutigen Donnerstag, dem 20. Februar, als mehr als 80 Menschen im Stadtzentrum von Kiew erschossen wurden (von wem, werden wir kaum jemals erfahren), trafen sich die ukrainischen Oppositionellen mit dem damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Geschlossen wurde ein Abkommen, das, wie sich heute herausstellt, eine allerletzte Chance für die territoriale Einheit der Ukraine hätte sein können. Vitali Klitschko, Arseni Jazenjuk und Oleg Tjahnybok kamen anschließend zu den am Maidan Protestierenden, um über das Ergebnis der Verhandlungen zu berichten, vor allem über die Neuwahlen bis Jahresende. Sie wurden ausgepfiffen, nicht gehört und – buchstäblich – in die Knien gezwungen. In dieser Pose haben sie mit dem Maidan gebetet und der Getöteten gedacht. Sie hatten keine Chance, nicht in die Knie zu gehen und trocken politisch zu berichten, teilte ein prominenter ukrainischer Journalist, Mustafa Nayem, nicht ohne Süffisanz in einem Interview mit.
Auch diese Inszenierung (was hätten wir hierzulande zu einer solchen Symbolik im Hinblick auf die 30er Jahre gesagt?) war ein Projekt der Kiewer Pys’mennyki, die jetzt die westukrainischen Paramilitärs als Entourage an ihrer Seite hatten. Schwierig und dramatisch ist, dass die emanzipatorischen Kämpfe in der Ukraine bisher immer in einem Austausch der Eliten endeten, bei dem die nationalistisch-angepassten Intellektuellen, die Pys’mennyki, bald nicht mehr von wirklicher Relevanz waren. Vielmehr kamen jeweils die pragmatischen Oligarchen aus Donezk, Dnipropetrowsk und Kiew an die Macht. Diese kennen jedoch keine Gnade, lachen über idealistische Exzesse und instrumentalisieren höchstens die Ideologie der zwischen Loyalität und Ungehorsam gespaltenen Kiewer Eliten für ihre Zwecke.
Eine neue Legitimität
Man muss die Geschichte der Ukraine studieren, die der Sowjetzeit und die des Zweiten Weltkriegs, aber auch die neueste Geschichte. Die korrupten politischen Eliten der postsowjetischen Ukraine, die über 24 Jahre ihre Einheit garantiert hatten, haben einen dramatischen Fehler begangen: sie haben es nicht geschafft, die entstehende ukrainische nationale Identität mit der (post)sowjetischen Realität des Landes zu verknüpfen: Die Straßen sorgfältig umzubenennen, ein Nebeneinander von Diskursen („Lenin“, „Chmelnytski“, „Bandera“) zu gestalten. Wobei man sich fragen sollte und muss, ob ein symbolisches Nebeneinander von Kommunisten und Faschisten wirklich zu gewährleisten wäre und dem neuen europäischen Land eine Legitimität verleihen würde. Der Preis für dieses unterlassene Nachdenken waren die abgedrehten Köpfe der Lenin-Denkmäler und die über diese Denkmäler triumphierenden, permanent fotografierenden und postenden Massen, mit denen die Kiewer Pys’mennyki vermutlich auch ihre Schwierigkeiten hätten. Die großen Banner mit dem Konterfei Banderas, die zusammengerollt wurden, als die nächste europäische Delegation zu Besuch war, sind keine Alternative zu den kommunistischen Idolen und können höchstens zu einem Wiederaufleben des Historikerstreits der 1980er Jahre im heutigen Osteuropa führen.
All diese Aktivitäten beobachtete über längere Zeit ein Mann äußerst aufmerksam, ein Mann, für den jeder abgedrehte Kopf eines sowjetischen Soldatendenkmals in der Westukraine oder Litauen ein persönliches Trauma war und bleibt. Dann packte dieser Mann das Sowjetisch-Imperiale aus und okkupierte die Halbinsel Krim, auf der sich die Kiewer Pys’mennyki jahrzehntelang mit den Moskauer Schriftstellern getroffen, friedlich getrunken und gesungen haben. Noch mehr: Dieser Mann ließ über fünfhundert russische Schriftsteller, Musiker und Schauspieler einen offenen Brief pro Annexion unterschreiben.
Die Europäische Union, die sich bewusst postnational positioniert, hat im aktuellen russisch-ukrainischen Konflikt nur die dürftige Wahl zwischen dem propagandistischen Imperialismus sowjetischer Prägung und dem immer präsenter werdenden Nationalismus, der seine intellektuellen Wurzeln in der Zeit von 1840 bis 1860 und in den ideologischen Grundlagen der 1930er Jahre hat. Eine manichäische Trennung zwischen „Gut“ und „Böse“, die hierzulande seit Wochen medial vorgenommen wird, ist de facto ohne jegliche tagespolitische und historische Relevanz.
■ Dmitrij Belkin, geb. 1971. Aufgewachsen in der UdSSR, dann in der Ukraine. Der Historiker kuratierte für das Jüdische Museum Frankfurt die Ausstellung „Bild dir dein Volk! Axel Springer und die Juden“. Er ist als Referent beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (Jüdische Begabtenförderung) in Berlin tätig