Starschnitte

ROCK ’N’ ROLL Franz Dobler und Guido Sieber im Caricatura Museum in Frankfurt am Main

Wenig Spannenderes gibt es, als sich in Deutschland in einen Zug zu setzen und – loszufahren. Go, man, go hieß das bei Jack Kerouac. Die Blicke und Gerüche, die Telefonate und Gespräche, die Verhaltensweisen – all das ist großartig. Und nicht sehr ästhetisch. Ein schönes Gesicht oder auch nur ein waches, es sticht heraus, ein Körper, der nicht irgendwie aus dem Leim gegangen ist, sowieso.

Es gibt eine physische Verwahrlosung in diesem Land (oder soll man Uneitelkeit sagen? Erschöpfung?). Die Leute sind zu fett, sie rauchen und trinken zu viel, sie bewegen sich zu wenig, sie waschen sich nicht, kaufen die verkehrten Deos und trocknen ihre Wäsche falsch. Und trotzdem ist es wunderbar, so in Zügen unter Menschen zu sein. Das Notat des Hässlichen muss nicht zur Fixierung werden, zur dünkelhaften Misanthropie. Es ist schon auch Liebe, merkt man, während man sich die inzwischen unvermeidliche Mayonnaise des gekauften belegten Brötchens aus dem Bart streicht: Man ist selbst ein Teil der Menge der Unperfekten, der Überforderten und Abgestumpften, der dem Traum Nachjagenden.

Gepflegt und souverän

Damit sind wir bei den neuen Bildern des Berliner Malers Guido Sieber; oder sind knapp vorbeigeschrammt – so verflucht gut, gepflegt und souverän, wie Sieber aussah bei der Eröffnung der Ausstellung „Rock ’n’ Roll Fever“ letzte Woche im Frankfurter Caricatura Museum.

Sieber, Jahrgang 1963, ist ein großer, starker Mann im Ted-Look. Er malt und zeichnet in der Tradition von George Grosz, Otto Dix und Velázquez. Was in Frankfurt bis Ende Januar 2011 und anschließend in der Caricatura Galerie in Kassel gezeigt wird, ist eine Geschichte der populären Musik in – hauptsächlich – großformatigen Acrylbildern: drastisch, fiebrig, übergenau, das Humane hinter der Hülle herausfordernd. Starschnitte der anderen Art.

Sieber ist Sammler und Liebhaber, aber kein Fan. Er kann ohne die Musik von Gene Vincent, Johnny Cash (Bild leider schon verkauft) und Elvis nicht leben. Aber er kann auch nicht diese Musik hören, ohne dabei einem der größten Business der Welt ins Gesicht zu sehen.

Dabei geht es nicht um platte Konsumkritik; die Wirkung ist viel verstörender. Mit diesen Bildern möchte man nicht eine Nacht allein im Museum verbringen. Kunst hat ihren Preis, sagen diese Arbeiten, im Leben gibt es nichts umsonst.

Populäre Musik ist Ausbruch, Grenzüberschreitung und darum notwendigerweise Erschöpfung und schließlich Auszehrung. Ebendas beschreibt der Kurator der Schau, Nils Folckers, in seinem eindringlichen Vorwort zum Katalog, der keine Wünsche offenlässt.

Das Gemälde „Dream Boy“ – Motiv: Ein Elvis nach dem Auftritt vor Drogen, Pillen, Beipackzetteln – verfolgt ihn bis in seine Träume: da, wo jede große Kunst hinwill. Idealerweise weiß man eben nicht mehr, wo man sein Auto geparkt hat, wenn das Werk gewirkt hat. Elvis wettert gegen Drogen, er kann nicht ohne Drogen und ist dabei selbst eine. So, für sich stehend, hat Guido Sieber Bilder gemalt, die wie die Porträts von Velázquez in einem Schloss hängen müssten, einem Schloss der Herrscher und Götter der populären Moderne. Wird nicht vielleicht gerade irgendwo eines gebaut?

Es gibt aber noch einen anderen Zugang zu dieser Ausstellung. Franz Dobler hat den Katalogtext geschrieben. 26 Passagen dieser Arbeit hat er herausgesucht, leicht modifiziert und vertont. Passend zu den jeweiligen Bildern stehen sie den Besuchern auf MP3-Playern zur Verfügung. Ohne Doblers Schmelz hätte das schiefgehen können. Aber das Wort des Cash-Biografen trifft sich mit Siebers Blick. Es bleibt schon ein wenig Rock-’n’-Roll-VHS, aber bei Sätzen wie „If I look like a mean old man, that’s what I am“ (Jerry Lee Lewis) bzw. „Völlig überschätzter Vollidiot“ (Guido Sieber über Lewis) nimmt man dem Teacher Dobler die education nicht übel (von Pink Floyd gibt es zum Glück kein Bild). Und schließlich kann man sich mit der Musik auch schlicht durch die schwarzen Räume treiben lassen.

Und wenn man dann rauskommt, auf den Weckmarkt vor dem Museum, und am anlässlich der Vernissage aufgebauten Bierstand hinter drei Frankfurter Jungs mit Tolle und Lackschuhen steht, und wenn der eine von ihnen dann leicht lallend schimpft „Wenn ihr hier Bier verkaufe tut, dann muss ma doch auch irgendwo hinpisse könne“ – dann stimmt mal alles: die Kunst, die Leute und die ganze Welt.

AMBROS WAIBEL

■ Caricatura Museum Frankfurt/Main – Museum für komische Kunst: „Guido Sieber – Rock ’n’ Roll Fever. Die Geschichte der populären Musik. Mit Bildern von Guido Sieber und Texten von Franz Dobler“. Bis 30. Januar 2011

■ Das Buch zur Ausstellung „Guido Sieber – Rock ’n’ Roll Fever“. Hrsg. von Achim Frenz, Edel Verlag, Hamburg, 39,95 Euro