: Skandal um Menschenversuche
GUATEMALA Ein US-amerikanischer Arzt hat in den 40er Jahren fast 700 Soldaten, Gefangene und psychisch Kranke mit Syphilis und Tripper anstecken lassen. Obama sagt „sorry“
AUS SAN SALVADOR TONI KEPPELER
Barack Obamas Krisenkommunikation zeigte keine Wirkung. Der US-amerikanische Präsident hatte persönlich bei seinem guatemaltekischen Kollegen Álvaro Colom angerufen und sich dafür entschuldigt, das ein US-amerikanischer Arzt im Auftrag seines Gesundheitsministeriums in den 40er Jahren 696 Guatemalteken für Menschenversuche missbraucht hatte. Er hatte 696 Soldaten, Gefangene und Patienten von psychiatrischen Kliniken ohne ihr Wissen von infizierten Prostituierten mit Syphilis oder Tripper anstecken lassen, um zu testen, wie Penizillin in der Anfangsphase der Krankheit wirkt. Vor Obama hatten bereits Außenministerin Hilary Clinton und Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius bei Colom angerufen. Doch der blieb aufgebracht und sprach von einem „haarstäubenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Der Skandal war eher zufällig aufgedeckt worden. Die Medizin-Historikerin Susan Reverby hatte im Archiv der Universität Pittsburgh über einen anderen Menschenversuch des Arztes John Cutler geforscht. Der hatte in den 30er Jahren in Alabama mehrere hundert an Syphilis erkrankte Afroamerikaner bewusst nicht behandelt, um den Verlauf der Krankheit zu studieren. Bei ihren Recherchen stieß Reverby auch auf den Bericht von Cutlers Experiment in den Jahren 1946 bis 1948 in Guatemala. Diese Studie war nie veröffentlicht worden, weil sie kein brauchbares Ergebnis hatte. Das Experiment in Alabama hatte Cutler stets verteidigt. Er ist 2003 gestorben.
Die Menschenversuche in Guatemala wurden nicht etwa unter einer blutigen Militärdiktatur durchgeführt, sondern in der Regierungszeit des Reformpräsidenten Juan José Arévalo. Angeblich waren die zuständigen Behörden informiert. Das Justiz- und das Gesundheitsministerium, die Armee und die staatliche Psychiatrie seien einverstanden gewesen, konnte Reverby dem Bericht im Archiv der Universität Pittsburgh entnehmen. Allerdings hätten sie über die Details nicht Bescheid gewusst. Die Opfer der Versuche waren ahnungslos. Es ist unklar, ob und wie sie behandelt wurden und wie sie ihre Ansteckung überlebt haben.
Guatemaltekische Medien verglichen das Experiment am Samstag mit den Menschenversuchen der Nazis. Wenn diese Versuchsreihe so lange in Archiven unentdeckt blieb, fragten sie, was weiß man dann alles noch nicht? Präsident Colom forderte eine zweistaatliche Untersuchungskommission, die die Opfer identifizieren und nach möglichen Überlebenden suchen soll. Viele davon dürfte es kaum mehr geben. Sie müssten heute mindestens achtzig Jahre alt sein. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Guatemala liegt bei 70,3 Jahren. Colom fordert von den USA Entschädigungszahlungen für die Opfer oder ihre Hinterbliebenen und behält sich eine Klage gegen das dortige Gesundheitsministerium vor.