Menschen als Freie in der Unfreiheit zeigen

SADOMASOCHISMUS Jan Soldat protokolliert in Filmen wie „Der Unfertige“ die Welt der Abweichung vom heteronormativen Mainstream – mitten im Herzen der deutschen Normalität

Hier geht es – sehr roh – zunächst einmal um nichts als um blanke Erfahrung

VON THOMAS GROH

Weit kommt er nicht: zwei, drei Schritte auf die Kamera zu, dann halten ihn die Ketten zurück, die zur schlichten Bettstätte hinter ihm führen. Nackt, verwundbar, entblößt und doch in seinem nervösen, gedrungenen Schalk eigensinnig souverän steht er nun vor uns. Ein Gefangener nicht nur der Ketten, die schwer an ihm hängen, sondern auch des unverwandt starren Bildkaders, der vom Raum nur wenig mehr preisgibt als das Bett, auf dem sich dieser Mann uns eingangs vorstellt: „Odenwald-Gay. Oder Gollum. Oder Klaus! 60 Jahre alt, schwul. Sklave!“

Und Protagonist – vielleicht sogar: Objekt, diese Bezeichnung dürfte Klaus wohl gut gefallen – des essayistischen Dokumentarfilms „Der Unfertige“ von Jan Soldat, der dafür beim Filmfestival in Rom sehr zu Recht mit dem Preis für den besten Kurzfilm ausgezeichnet wurde. Kommenden Montag feiert er in der Volksbühne Deutschlandpremiere.

Ein ungeschliffener Kinodiamant ist dieser von falschen Sentimentalitäten und noch falscheren Vermittlungsverrenkungen dankenswerterweise völlig freie Film. Als in den letzten Jahren von Kennern mit hohem Interesse beobachteter Spezialist für wagemutige Sujets aus für gewöhnlich als Grenzregionen aufgefassten sexuellen Kulturen versteht sich sein Regisseur auf einen ästhetisch hochreflektierten filmischen Zugang zu den Menschen, für die er sich geradezu rasend interessiert.

Jan Soldat beobachtet, statt zu urteilen. Er baut ein sichtbar privates, intimes Verhältnis zu den Leuten auf – dass er hinter der Kamera direkt angesprochen oder gleich mit zu Tisch gebeten wird, ist keine Seltenheit – und belässt darin eben doch eine Distanz in der Schwebe, die Erkenntnis und Empathie zwar ermöglicht, die Fremderfahrung als solche aber intakt lässt.

Eine Lektion in Sachen filmischer Demut auf Augenhöhe: Die Kamera bleibt durchlässige Membran – interessiert, aber nicht übergriffig, wenn auch durchaus von eigener Härte, wenn es darum geht, das Geschehen zu rahmen. Die Montage: lakonisch, im Timing äußerst präzise. Den Filmen, die man für gewöhnlich unter „Berliner Schule“ sortiert, beileibe nicht unähnlich – auch wenn mit Bürgerdramen nicht zu rechnen ist.

Zum „Unfertigen“ kommen noch die Kurzfilme „Geliebt“ (2010), ein Porträt zweier zoophiler Männer, und „Ein Wochenende in Deutschland“ (2013) über ein hinreißendes schwules BDSM-Paar im Rentenalter. Ein Projekt zeichnet sich da ab: Nichts weniger als die Welt der Abweichung vom heteronormativen Mainstream protokolliert Jan Soldat in seinen Filmen, doch dies nicht an jenen wenigen Orten, wo man die sexuelle Vielfalt der Menschen auch politisch zelebriert, sondern dort, wo es mitunter schmerzt: im Herzen des deutschen Mainstreams mit seinen oft so trostlos trist eingerichteten Wohnungen, weit jenseits der ästhetischen Signaturen queerer Lebensentwürfe. Hier geht es nicht um an soziale Zusammenhänge rückbindbare politische Plädoyers, sondern – sehr roh – zunächst einmal um nichts als um blanke Erfahrung.

Schön ist, wie wenig, ja gar nicht all diese kostbaren Filme überformt sind von naheliegenden Bildern. Immer wieder findet Jan Soldat dabei ganz eigenen Humor: Warum sollte es auch nicht lustig anzusehen sein, wenn sich drei nackte alte Herren unter viel Gegluckse und Gejohle unterm Dachgiebel mit Brennnesseln im Schritt amüsieren, während die Videokamera nicht tut, was sie doch eigentlich soll. Und wenn in „Geliebt“ ein Hund es freudigsten Erstaunens kaum zu fassen vermag, was die beiden porträtierten Männer da für Kapriolen vor der Glotze beim Wii-Spielen aufführen, dann erobert dieses Bild die Publikumsherzen im Sturm.

Sadomasochismus als Ausdruck spielerischer Lebensfreude, als eine Form fragiler Zärtlichkeit. Im Dungeon darf auch gelacht werden. Jan Soldat macht sich frei vom üblichen Drang zur Pathologisierung, zur faden Nachfrage, wieso weshalb warum. Er zeigt Menschen, wie sie sind, als Freie in der Unfreiheit.

■ „Der Unfertige“: Volksbühne, 24. 3., 20 Uhr