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Archiv-Artikel

Repräsentant einer anderen Welt

TOD Semjon Arkadjewitsch Barkan ist tot: Der leidenschaftliche Regisseur und frühere Leiter des Moskauer Romen-Theaters war über Bremen hinaus als eine Herzkammer jüdisch-russischen Lebens bekannt

Wenn Semjon Arkadjewitsch Barkan zur Aufführung einlud, waren auf dem Parkplatz der Universität auffällig viele Autokennzeichen aus dem gesamten Nordwesten zu sehen. Die Produktionen seiner „Russkaja Aktjorskaja Schkola“ im Theatersaal der Uni waren regelmäßige Höhepunkte im Leben der regionalen jüdischen und russischsprachigen Community. Nun ist der charismatische Regisseur 94-jährig gestorben. Zur Bestattung auf dem Riensberger Friedhof reisten sogar ehemalige Schüler aus Moskau an.

Mit Barkan hatte Bremen so etwas wie ein „Fenster“ in die reichhaltige russische Theatertradition, zudem war Barkan Zeitzeuge vieler Jahrzehnte sowjetischer Kulturpolitik. Er leitete 25 Jahre lang das Moskauer Romen-Theater – damals tituliert als „erstes und einziges Zigeunertheater der Welt“. Es war 1931 als Vorzeigeprojekt zur Integration der Roma in die sowjetische Gesellschaft gegründet worden.

Viele der Sinti- und Roma-Schauspieler, die Barkan zum Teil direkt aus deren Wanderleben heraus fürs Theater abwarb, wurden später „Verdiente Künstler der Sowjetunion“, Barkan ebenso. Er lernte allerdings auch die repressive Seite der SU-Kulturpolitik kennen. Als 1946 seine Abschlussarbeit am Staatlichen Institut für Theaterkunst in Moskau herauskommen sollte, verbot das Zentralkomitee alle Inszenierungen von Werken britischer und US-amerikanischer Autoren, auch die von Barkan vorbereitete. Ein herber Rückschlag, der ihn zum Ausweichen in die Nische des Roma-Theaters veranlasste. In den 70ern arbeitete Barkan als Professor an einer der ältesten Theaterschulen des Landes und verantwortete unter anderem die Eignungsprüfungen für angehende SchauspielstudentInnen in ganz Russland.

Barkan kam erst als 78-Jähriger nach Bremen. „Das tat ich nicht etwa, weil emigrieren mir Spaß bereitet hätte“, berichtete er der Jüdischen Zeitung. Seine hier lebende Tochter brauchte Hilfe, weil ihr Mann gestorben war. Es ist bemerkenswert, mit welcher Energie sich Barkan im unbekannten Land – von seiner Großmutter hatte er lediglich rudimentär Jiddisch gelernt – ein neues Wirkungsfeld aufbaute: Er hielt Vorlesungen am Osteuropa-Institut und gründete die Theaterschule. 40 bis 50 Menschen waren an den Produktionen beteiligt, die neben jüdischen Stoffen wie „Schwierige Menschen oder Der Bräutigam von Jerusalem“ auch Klassiker, etwa William Tennessees „Glas-Menagerie“ auf die Bühne brachten. Sie waren eine der leider seltenen Gelegenheiten, bei denen Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die wichtige Proben selbst am Schabbes erlaubte, russische Migranten und russisch-lernende deutsche Studenten zusammen aktiv waren – in einer Altersspanne von sieben bis 77 Jahren.

In Barkans Person prallte die hochdisziplinierte Schauspielkunst alter russischer Prägung auf das Laissez-Faire des deutschen Studentenlebens. „Ich konnte sie nicht bewegen, täglich oder auch bis in die Nacht zu proben“, bedauerte Barkan noch als 90-Jähriger. Es war eine weitere Leistung des alten Regisseurs, auch aus den hieraus resultierenden Konflikten theatrales Kapital zu schlagen. Mit Barkans Tod geht nicht zuletzt auch ein „Link“ in eine andere Welt verloren, die der hiesigen bereits historisch entrückt scheint – aber dennoch zu einer produktiven Synthese führte. HENNING BLEYL