: „Seine Haltung war toll“
LESUNG Erich Mühsams Tagebücher sind eine ganz besondere Chronik des Ersten Weltkriegs
■ 66, ist Lektor, Übersetzer und Autor und arbeitet seit 2009 mit Conrad Piens an der Gesamtausgabe der Tagebücher Erich Mühsams im Verbrecher Verlag.
taz: Herr Hirte, was macht Erich Mühsams Blick auf das Weltgeschehen so besonders?
Chris Hirte: Als Anarchist war Mühsam immer an der Wahrhaftigkeit ohne ideologischen Blick gelegen. Das macht ihn sehr besonders.
Wie hat Mühsam den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebt?
Der Kriegsausbruch war für ihn ein richtiger Schock. Plötzlich musste er sich seine Welt neu zusammensetzen, musste Wahrheit von Propaganda unterscheiden – und als Leser seines Tagebuchs ist man mittendrin. Mühsam hat ja mit dem Blick auf das, was grad’ passiert, geschrieben, nicht mit dem Blick auf Vergangenes. Da ist sehr viel Nicht-Begreifen niedergeschrieben.
Als Anarchist muss man auch davon überzeugt sein, dass der Mensch an sich gut ist – wurde Mühsam durch den Krieg eines Besseren belehrt?
Nein, er hielt an seinen Überzeugungen fest, aber die Kriegsberichte quälten ihn sehr, vor allem der Völkermord an den Armeniern, der die volle Unterstützung der deutschen Politik fand. Aber er lernte daraus, dass es eine Rettung für Europa gab, nämlich die militärische Niederlage Deutschlands.
Mühsam gehörte zu den ersten Revolutionären in Deutschland, schmiedete linke und pazifistische Bündnisse – zerstörte auch das spätere Erstarken der Nationalsozialisten und die Aufrüstung Deutschlands seine Illusionen nicht?
Nein, er hat sich nie abgewendet, er kämpfte weiter, auch gegen die Nazis – und das hat er 1934 dann ja auch mit seinem Leben bezahlen müssen. Seine Haltung war toll, auch wenn er nicht in allen Dingen Recht hatte. Er blieb sich immer treu. Interview: SCHN
20 Uhr, K? - Zentrum Aktuelle Kunst, Alexanderstraße 9b