: Auf der Suche nach dem verlorenen Publikum
Die Kulturpolitik muss umdenken, fordert die Hildesheimer Kulturmanagerin Birgit Mandel. Denn der subventionierte Kulturbetrieb erreicht die Zuschauer nicht mehr. Die Lösung heißt „Audience Development“. Der Trick: die Kunst rekrutiert sich ihre Zuschauer selbst
Deutschland ist und bleibt Kulturweltmeister. Und kein Schwein guckt. Zehn Milliarden Euro würden hierzulande jedes Jahr für Kultur ausgegeben, hat Birgit Mandel errechnet, Dozentin für Kulturmanagement an der Universität Hildesheim. Mit dem Geld müsste ausreichend Kunst zumindest für die Kultur-affine Hälfte der Bevölkerung produziert werden können. Aber das scheitere bereits daran, dass sich das Angebot nicht an der Nachfrage, also am Publikum orientiere. Laut Mandel sei Kulturförderung zu 85 Prozent auf den schlichten Erhalt von Hochkultur-Institutionen ausgelegt, die nur von 30 Prozent der Bevölkerung ab und an besucht, von zehn Prozent regelmäßig genutzt würden. Tendenz fallend. Das angestammte Publikum, das Bildungsbürgertum, stirbt einfach weg. Es hinterlässt einen Nachwuchs, für den Kulturnutzung auf einer Ebene steht mit dem Besuch im Fitnessstudio, Essengehen, Partys.
Zudem wächst bei sinkendem Bildungsniveau (Pisa!) die Zahl kulturferner Gruppen. Sie haben die üblichen Argumente, keine Eintrittskarten für den Kunstgenuss zu lösen: zu teuer, sieht nach Arbeit aus, verstehe ich sowieso nicht. Mit den Besuchern schwindet aber auch die Lobby für die klassische Kultur, schwindet ihr Image und Rückhalt in der Bevölkerung – angesichts der leeren öffentlichen Kassen verschwinden dann auch bald die Theater, Museen und Konzerthäuser.
Man könnte jetzt in fatalistischer Neugier verharren und aus kultur-evolutionärer Sicht behaupten, der traditionelle Kunstbegriff vom still erbauenden Genuss des GutenWahrenSchönen habe sich überholt, die Tempel könnten geschlossen werden. Mal schauen, was folgt.
Oder man wird aktiv und behauptet, dass jetzt in kulturelle Bildung investiert werden muss, sollen Schauspieler und Musiker nicht demnächst vor leeren Rängen oder in Fußgängerzonen spielen. „Audience development“, verstanden als eine subversive Art der Zuschauerrekrutierung, heißt dazu das aus England importierte Motto – unter dem am Wochenende eine Tagung in Bremen stand. Kulturmanagerin Birgit Mandel forderte dort eine Neuorientierung der deutschen Kulturpolitik. Beispiel: Großbritannien. Dort bekommt nur der Subventionen, der davon ein Viertel für Kunstpädagogik, soziokulturelle Begleitprogramme und Publikumsakquise bei gesellschaftlichen Randgruppen ausgibt. Zuschauer werden direkt aus der Schlange beim Arbeitsamt gelockt, mit Performances in ihrem Supermarkt angesprochen, per SMS-Poesie umworben. In Deutschland würden, so Mandel, nur fünf Prozent aller Kulturfördermittel in diesen Zweck investiert. Das sei falsch.
Das heißt nun nicht, dass jetzt auch der letzte Junkie mit einer Thalheimer-Inszenierung oder einer Mahler-Sinfonie zwangsbeglückt werden soll. Der Kulturelite, die vorgibt, was kulturell wertvoll sei, müsse die Definitionsmacht entrissen werden, fordert Mandel. Was das Bildungsbürgertum zum Wohlfühlen, Distinktionsgewinn und zur Selbstdarstellung benötige, solle es selbst finanzieren. „Auf viele der hoch subventionierten Theateraufführungen, die ich zuletzt gesehen habe, können wir auch gut verzichten“, provoziert die Wissenschaftlerin.
Da nach Informationen der Künstlersozialkasse nur zehn Prozent der Künstler überhaupt von ihrer Kunst leben könnten, sollten sie zum Gelderwerb einfach auf das Taxifahren verzichten, so Mandel, und in eigener Sache bürgernah tätig sein. Kunstpraxis lehren – und dabei etwas für die eigene Kunst lernen.
Es gebe da allerdings ein Problem, so Mandel. „An Deutschlands Kunsthochschulen werden weltfremde einsame Genies ausgebildet, in Großbritannien gehören Fächer wie Soziologie, Psychologie, Politik und Pädagogik zur Künstlerausbildung, da Künstler gesellschaftliche Aufgaben übernehmen sollen.“ Wie es etwa der britische Dirigent Sir Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern mit dem Jugendprojekt „Rhythm is it“ versucht hat: Sozialpädagogik als Kunstevent.
Kunst müsse populärer werden, Kultur eine Liebesbeziehung zu einem breiteren Publikum aufbauen. Darauf beharrt Birgit Mandel. Erwünschter Nebeneffekt: wer Kunst, wenn auch nur auf Laienniveau, produziert, besucht auch Hochkulturveranstaltungen. So dass kulturelles Interesse kein knapper werdendes Gut mehr ist, wir Kulturweltmeister bleiben dürfen und das so arg geschmähte Bildungsbürgertum wieder in Ruhe einen Abend mit modernem Tanz genießen kann. Jens Fischer