: Laufe nie ins offene Messer
EINREISE Sätze wie Schätze, das Leben in einem Dazwischen: „Tauben fliegen auf“ von Melinda Nadj Abonji
Das Beste ist die Sprache. Kilometerlange Sätze schlingen und schachteln sich, durch Kommata rhythmisiert, über ganze Seiten, Relativsätze jagen Parenthesen. Manches taucht ab und zu wieder auf, schichtet um, verzahnt sich, wie in einem Reim, Refrain oder Gedicht. Manchmal, wenn er abschweift und ausschweift, um den Punkt kreist, wenn er lauert wie die Katze auf die Maus, wirkt der Text improvisiert, dann wieder direkt und pointiert – und immer folgt man diesem rasanten Ganzen atemlos, denn wie bei der Slam Poetry wirkt es nie kompliziert oder gar verstiegen, nur manchmal ein wenig ungewohnt.
Die Autorin Melinda Nadj Abonji, die tatsächlich auch Spoken Word betreibt, hat den perfekten Stil für ihren zweiten Roman „Tauben fliegen auf“ gefunden. Wie sie selbst ist auch ihre Heldin Ildiko in der Vojvodina, einer autonomen Provinz Serbiens, als Angehörige der dort lebenden ungarischen Minderheit aufgewachsen. Wie sie ist auch Ildiko als Kleinkind ihren Eltern in die Schweiz gefolgt, wo diese versuchten, sich ein neues Leben aufzubauen.
Es geht also um das Leben in einem mühsamen Dazwischen, das durch den Ausbruch des Balkankonfliktes Anfang der Neunziger noch schwieriger wird, denn er schneidet von der alten Heimat ab, macht hilflos, macht ohnmächtig. Es geht aber auch in aller Unruhe und so unordentlich, wie das Gedächtnis nun mal arbeitet, um manchmal plastische, manchmal blasse Erinnerungen an die Einreise in die Schweiz, an Ferien in der Vojvodina, um Gespräche mit Müttern und Großmüttern, die Verschwiegenes und Verdrängtes ans Licht bringen und immer weiter an der Familiengeschichte puzzeln.
Insofern ist nicht nur die Sprache toll: das Ungewohnte, Unbewohnte, das auch Autorinnen wie Zsuzsa Bánk, Terézia Mora oder Marica Bodrožić ins Deutsche hineintragen wie einen Schatz. Es ist auch das, was erzählt wird. Besonders ans Herz geht dabei die Geschichte des Vaters. Einen unbändigen Hass auf die Kommunisten pflegt er, besonders dann, wenn er einmal wieder im Schnaps und ungarischen Flüchen untertaucht. Er muss wohl auch deshalb in die Schweiz geflüchtet sein, schlussfolgert die Tochter.
Erst nach und nach schält sich heraus, warum. Der Vater des Vaters, der geliebte Papuci, ein stolzer Bauer und unabhängiger Geist, kam ins Arbeitslager, als er sich gegen die Landenteignung sträubte. Und bevor ihm dort die Läuse die Haare vom Kopf fraßen, da wurde er im Keller der Schule gefoltert, in der die Söhne saßen und nicht hinunter durften zu ihm. „Miklós hat Papuci gehört, stellt euch das vor“, erzählt die Großmutter, „und der Lehrer hat ihn mit Müh und Not daran gehindert, in den Keller zu stürzen, in den sicheren Tod, das wollten die ja, rief der Lehrer, die wollen, dass du ihnen ins offene Messer läufst!“
Ildi und ihre Schwester Nomi sind wie gefangen in der bleischweren Geschichte der Familie, und im Jahr 1993, dem Hier und Jetzt des Romans, finden sie kein Heraus. Sie arbeiten im Café mit, in dieser kleinen Stadt in der Schweiz, wo die Familie es nur aushält, weil sie so gut schweigen kann und weghören, wie die Mutter sagt. Ildi soll es sogar ertragen, dass sich neuerdings mancher Gast zum Balkanexperten aufschwingt und das Fräulein aus Ejugoslawien über Tito und die Folgen belehrt. Erst ganz am Ende begreift Ildi, dass sie einen Schnitt braucht. Wenn auch zunächst nur einen kleinen. SUSANNE MESSMER
■ Melinda Nadj Abonji: „Tauben fliegen auf“. Jung und Jung, Salzburg 2010. 314 Seiten, 22 Euro