Argentinische Südstaatensaga

MONDÄNE PAMPA Dreizehn Jahre ließ Ricardo Piglias neuer Roman auf sich warten. Mit „Ins Weiße zielen“ ist ihm ein großer Wurf gelungen, auch wenn dem Werk gegen Ende ein wenig die Luft ausgeht

„Ich habe fahle Leichen gesehen, die auf dem Grund der Lagune standen, mit offenen Augen, wie große, weiße Fische in einem Aquarium“

VON ANDREAS FANIZADEH

Ricardo Piglia ist eine der unzweifelhaften Größen der argentinischen Gegenwartsliteratur. Geboren am 24. November 1940 in Adrogué, Provinz Buenos Aires, studierte er Geschichtswissenschaften in La Plata und machte sich als Lektor um die Verbreitung der Schwarzen Serie (der US-amerikanischen Kriminalliteratur um Chandler, Hammett und Co) in Argentinien verdient. Sein 1997 erschienener Roman „Plata Quemada“ („Brennender Zaster“) erhielt den Premio Planeta Argentina. Dreizehn Jahre musste seine Fangemeinde nun warten, notdürftig mit Essay- und Novellen-Sammlungen überbrückt, bis der Argentinier einen weiteren Roman vorlegte. „Blanco Nocturno“, deutscher Titel: „Ins Weiße zielen“.

Mit „Ins Weiße zielen“ befriedigt Piglia zunächst alle Ansprüche, die ein Leser oder eine Leserin an eine unterhaltend analytische Weltliteratur haben kann. Er, der sich selber in der Erzähltradition William Faulkners sieht und in den USA an den Universitäten von Princeton und Harvard unterrichtete, verschränkt eine packende Familiensaga aus dem argentinischen Süden mit zeitgeschichtlichen Auffälligkeiten der frühen 1970er Jahre. Piglia inszeniert ein mondänes, feudales Setting in der argentinischen Pampa, in dessen Zentrum die weltgewandten Zwillingsschwestern Sofia und Ada Belladona stehen.

Die persönlichen Konflikte unter den Belladonas, dem Dorf, konkurrierenden Kapitalfraktionen und Justiz/Militär kann als Parabel für die argentinischen Verhältnisse um 1970 gelten. Die zunehmenden Spannungen um die Rückkehr Perons (1972), autoritäre Herrschaft, das Abgleiten in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, Staatsterrorismus und schließlich 1976 die offene Militärdiktatur bilden den komplexen historischen Hintergrund der Erzählung. Auch sollte man wissen, dass die argentinischen Putschgeneräle planwirtschaftliche Ziele hatten, was dazu führte, dass sie später nicht nur sozialistische Linke, sondern auch demokratisch gesinnte Bürger und Kapitalisten verfolgten, deren Geschäfte und Stellungen raubten und neu aufteilten.

Um die in Argentinien reichlich anzutreffende national-patriotische Schrumpfperspektive gleich von Beginn an literarisch zu attackieren, lässt Piglia in seine pittoreske Südstaatensaga zunächst den US-Amerikaner puerto-ricanischer Abstammung (!) Tony Durán treten. Der attraktive Dandy verkörpert die große weite Welt, der die reichen Belladona-Zwillingsschwestern zugeneigt sind – „sie tauschten ihre Liebhaber untereinander“ – und die in der argentinischen Provinz auch in der Oberschicht kaum anzutreffen ist. Piglia treibt ein feines Rollenspiel über die Klassenzugehörigkeit hinweg, „die Belladona-Schwestern waren die Vorreiterinnen bei allem Interessanten, was im Dorf geschah“, trugen Miniröcke, verzichteten auf Büstenhalter, rauchten Marihuana und nahmen die Pille. Doch Tony Durán, der Mulatte, „der Zambo“ (argentinisch für Mischlinge, Schwarze, Indigenas), der weiße Anzüge trägt, höflich ist, kurz: der Gringo, der ein karibisches Kolonialspanisch spricht und sich als Wohlhabender auch noch mit dem Nachtportier seines Hotels anfreundet, einem „Nikkei“ (also einem Argentinier japanischer Abstammung) passt ganz offensichtlich nicht in die vom Autor als homophob, status- und abstammungsfixiert vorgeführte argentinische Feudalgesellschaft, aus der die Belladonas nur bedingt herausfallen. Tatsächlich gehören sie zu ihr, wie die transnationalen Geldmachenschaften, in die sie am Rande der Handlung verstrickt sind.

Und so entwickelt sich eine immer wieder überraschende Geschichte. In geschickten Szenen- und Perspektivwechseln deutet Piglia auf die Vorurteile der ländlich geprägten Bevölkerung. Und nach einem malerisch inszenierten Pferderennen in der Pampa – ein Wettkampf zweier Pferde, zweier Jockeys, zweier Familien, zweier Oligarchen und zweier Dörfer – liegt Tony Durán, der angeblich schwul gewordene Ex-Liebhaber der Belladona-Zwillinge, der US-puerto-ricanische „Kofferbote“ (Geldwäscher), aufgeschlitzt im Hotelzimmer.

Was ist geschehen? „Kreolischer Messerstich. Von unten nach oben, die Klinge tief zwischen die Rippen“, ermittelt Kommissar Croce, der von Piglia vorübergehend ins Erzählzentrum gerückt wird. Kommissar Croce, ein kauziger Ermittler, ein argentinischer Lino Ventura, unbestechlich und – wie soll’s anders sein – ein magisch halluzinierender: „Ich habe fahle Leichen gesehen, die auf dem Grund der Lagune standen, mit offenen Augen, wie große, weiße Fische in einem Aquarium.“

Kommissar Croce verkörpert den gerechten Anteil am alten Peronismus. Und während das Dorf ein Opfer fordert, der angeblich schwule Nikkei Yoshio Dazai soll der Mörder Durans sein, lässt Piglia Croce stoisch weiter ermitteln, einzig unterstützt von dem hauptstädtischen Reporter Renzi. Denn: Der Mörder ist immer der Staatsanwalt. Und im Hintergrund tobt die Auseinandersetzung um eine kafkaeske Automobilzulieferfabrik der Belladona-Brüder.

Dank der Figuren des Ermittlers Croce und des Journalisten Renzi gelingen Piglia trickreiche Perspektivwechsel. Notizen und Zeugenbefragungen der Belladona-Töchter montiert er genauso in den Handlungsablauf, wie er seiner Geschichte im Anhang ein Glossar beifügt. Ein brillantes Spiel mit Dokument und Fiktion sowie verschiedenen literarischen Ebenen. Der Ausgangsort von „Ins Weiße zielen“ ist laut Piglia ein Sommerferienort seiner Kindheit. Ein Ort „schon im inneren Pampa“ gelegen, wo die Dörfer zumeist um sich selber kreisten.

„Das ist hier nicht Sizilien. Das war hier nicht Sizilien?“, heißt es an einer Stelle des Buches. „Ins Weiße zielen“ thematisiert, wie immer wieder Modernisierungsschübe und politische Herrschaftswechsel in die argentinische Geschichte drängen, ohne dass sich das Fundament der Ordnung grundlegend änderte. Argentinien, bei Piglia ein Synonym für Pampa, Clan und Mafia. Oder in seiner Sprache der Entmythologisierung: Die Gauchos ernährten sich von Maisbrei, nicht von Steaks, die sie ohne Zähne gar nicht kauen konnten.

Piglia wird von der ästhetisch radikaleren Generation in Argentinien zu Recht verehrt. Doch leider franst sein gerade noch zur Buchmesse auf Spanisch und Deutsch fertig gestelltes Werk gegen Ende ein wenig aus. Sehr schade. Piglia hätte sich nach dreizehn Jahren der Abstinenz mit „Ins Weiße zielen“ in den Schriftsteller-Olymp schreiben können. So schrammt er haarscharf am Nobelpreis vorbei.

Ricardo Piglia: „Ins Weiße zielen“. Aus dem Spanischen von C. Regling, Wagenbach Verlag, Berlin 2010, 256 S., 19,90 €