: Volkszählung in den Weltmeeren
FORSCHUNG Zehn Jahre durchkämmten 2.700 Forscher die Weltmeere und beobachteten 137.000 Arten. Die Wissenschaftler würden gern alle 20 Jahre zählen, doch die Finanzierung solcher Projekte ist unklar
BERLIN taz | Der größte Teil unseres Planeten liegt noch immer im Dunkeln. Geht es nach dem Willen vieler Meeresforscher, soll sich das ändern. „Mehr als 60 Prozent der Erdoberfläche sind Tiefsee“, sagt Professor Michael Türkay vom Forschungsinstitut Senckenberg. Davon sei nur ein Bruchteil erforscht; nach Hochrechnung des Instituts lediglich fünf Quadratkilometer. Zur Tiefsee gehören jene Teile der Weltmeere, die tiefer sind als 1.000 Meter. Ab dieser Tiefe beginnt der lichtlose, „aphotische“ Bereich.
Türkay hat nun mit anderen Kollegen etwas Licht ins Dunkel gebracht. Der Frankfurter Forscher nahm an einem bisher einzigartigen Mammutprojekt Teil, dem „Census of Marine Life“, einer Art internationalen Volkszählung unter Wasser. Zehn Jahre lang erforschten 2.700 Wissenschaftler aus 80 Ländern die Artenvielfalt der Weltmeere. Neben Schiffen, Netzen und Greifarmen setzten die Forscher Satelliten und ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge ein, um bisher unbekannte Lebensarten aufzuspüren. Die Bilanz des Projekts: Die Artenvielfalt in den Weltmeeren ist weitaus größer als bisher bekannt.
Seit 2000 konnten die Forscher fast 137.000 Arten in ihrem Lebensraum beobachten, rund 16.000 davon sind in einer Studie aufgeführt, die Anfang der Woche in London präsentiert wurde. In allen untersuchten Lebensräumen seien Organismen entdeckt worden, auch dort, wo es sehr wenig Sauerstoff und Licht gibt, so die Forscher. Zudem konnten die Wissenschaftler Wanderungen einiger Arten beobachten, die sich auffallend in Richtung schmelzender Eismassen bewegten. „Wir waren bei jedem Fang überrascht“, sagt Michael Türkay. „Denn fast alles, was wir in der Tiefsee sehen, ist neu.“
Mit dem „Census of Marine Life“ ist nun erst ein kleiner Bruchteil des Lebens erforscht, das Experten in den Weltmeeren vermuten. Dennoch sucht das Projekt mit Blick auf Umfang und Dauer der zugrundeliegenden Forschung seinesgleichen. Initiiert und weitgehend finanziert wurde das Projekt von der amerikanischen Sloan Foundation, die vor zehn Jahren die „Dekade der Entdeckung“ ausrief. Rund 75 Millionen Euro setzte die private Stiftung ein, um die „Inventur der Weltmeere“ möglich zu machen. Weltweit wurden insgesamt über 400 Millionen Euro in das Projekt investiert. Zum Einsatz kam auch das bundeseigene Forschungsschiff „Polarstern“, dessen Betrieb pro Tag rund 60.000 Euro kostet.
Türkay verteidigt die hohen Kosten des Projekts. „Wir betreiben damit Grundlagenforschung“, sagt Türkay. „Und Grundlagenforschung stellt die Grundlage unseres Denkens dar.“ Zudem lieferten die gewonnenen Daten Erkenntnisse darüber, wie sich die Meere durch den Klimawandel und menschliche Einflüsse verändern. Geht es nach Türkay, sollen derartige Bestandsaufnahmen alle 20 Jahre wiederholt werden. Die gewonnenen Daten könnten so regelmäßig abgeglichen und Veränderungen registriert werden. Ob die Sloan Foundation eine Neuauflage des Projekts finanziert, ist noch unklar. FELIX DACHSEL