: Heilung mit Hightech und anderen Mitteln
INTENSIVMEDIZIN Gerätemedizin darf kein Selbstzweck sein, finden anthroposophische Intensivmediziner. Sie setzen parallel auf Alternativen, die von Eurythmie bis Weihrauch reichen
VON HANNAH SCHÜNEMANN
„Hightech ist per se nichts Schlechtes“, findet Martin Marsch. „Sie darf nur nicht als Selbstzweck missbraucht werden.“ Der promovierte Mediziner leitet die Intensivmedizin im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, dem ältesten anthroposophisch ausgerichteten Krankenhaus Deutschlands. Klassische Gerätemedizin findet man an diesem Standort, mitten im Städtedreieck Bochum, Dortmund und Hagen gelegen, zunächst mal genauso wie überall sonst. Ähnlich unverzichtbar ist die Technik zur Lebenserhaltung in anderen anthroposophischen Akutkliniken, etwa dem Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin oder der Filderklinik bei Stuttgart. Aber Technik ist noch nicht alles. Dort wird genau wie in Herdecke versucht, in medizinischen Extremlagen alternative Heilungsansätze zu berücksichtigen.
„Medizin wird hier im Kontext des Menschen und für den Menschen angewandt“, so Martin Marsch. Der Intensivmediziner verweist darauf, dass das Krankenhaus die Individualität des Menschen auch in schwierigen Situationen konsequent in den Vordergrund stellt. Beispielsweise setzt man in Herdecke auf klassisch-anthroposophische Methoden, wie Musiktherapie, Heileurythmie und Sprachtherapie, aber auch auf die Behandlung mit anthroposophischen Medikamenten.
Martin Marsch war vor seiner Anstellung in Herdecke an einer Universitätsklinik tätig. „Versterben sieht man dort immer als ein persönliches Versagen an, das es auf jeden Fall zu verhindern gilt. In Herdecke kennen wir die Grenzen moderner Gerätemedizin und unterstützen den natürlichen Lebenslauf.“ Um herauszufinden, was für einen schwerkranken Patienten das Beste ist, bedienen sich Anthroposophen nicht selten sehr spezieller Methoden. Wie zum Beispiel der Verabreichung von Olibanum, im Volksmund auch als Weihrauch bekannt. Während das Kraut im katholischen Gottesdienst für seine mystisch-benebelnde Wirkung geschätzt wird, betrachten anthroposophisch orientierte Mediziner Olibanum als ein sogenanntes Entscheidungsmedikament. Nach eingehender Klärung wird es in sehr schwierigen bis ausweglosen Fällen injiziert – ähnlich wie Morphium, traditionell die Ultima Ratio der Palliativmedizin.
Doch es geht nicht nur um eine möglichst schmerzfreie Exit-Option. Laut anthroposophischem Ansatz unterstützt Olibanum den Patienten bei seiner Entscheidung, den Krankheitszustand zu überleben oder aus der Welt zu gehen. „Entweder verstirbt der Patient nach der Injektion, beziehungsweise sein Zustand verschlechtert sich derart, dass er bald sterben wird. Oder es hat sich nichts verändert, was dann Anlass zu einem erneuten Therapieversuch geben kann“, so Martin Marsch. Damit dient Olibanum auch dem behandelnden Arzt als Entscheidungshilfe.
Diese und andere anthroposophische Methoden stoßen oft auf die Kritik von Medizinern, die sich ausschließlich zur klassischen Schulmedizin bekennen. So zum Beispiel bei Krista Federspiel, in Fachkreisen bekannt als Mitbegründerin der „Gesellschaft für kritisches Denken“. Die Medizinjournalistin hat die Wirksamkeit zahlreicher alternativen Heilmethoden überprüft und die Ergebnisse in ihrem Buch „Die andere Medizin“ publiziert. Federspiel konstatiert: „Ich bezweifle, dass ein Medikament eine Entscheidung übernehmen kann. Meiner Meinung nach müssen Ärzte selbst merken, in welche Richtung sich der Zustand eines Patienten entwickelt.“
Andersherum kritisieren anthroposophische Ärzte aber klassische medizinische Verfahren. Zum Beispiel das derzeit auch im Zusammenhang mit dem Thema Organspende viel diskutierte Hirntod-Kriterium. Danach ist ein Mensch verstorben, wenn das Gehirn seine Funktion eingestellt hat und über einen längeren Zeitraum hinweg im EEG keine nennenswerte Aktivität mehr zu erkennen ist. Zu diesem Zeitpunkt funktionieren die Organe allerdings noch und lassen sich beispielsweise transplantieren. In den Augen einiger Anthroposophen ist der Mensch jedoch erst dann wirklich tot, wenn nicht nur das Gehirn, sondern alle seine Organe verstorben sind. In den gut zwei Jahren, die Martin Marsch nun in Herdecke praktiziert, wurden erst sieben Organtransplantationen durchgeführt. Wie in einzelnen konkreten Situationen vorzugehen ist, diskutieren die Ärzte in Herdecke in ethischen Fallbesprechungen.
„Ich bin in erster Linie für eine evidenzbasierte, wissenschaftlich beweisbare Medizin“, beteuert Martin Marsch. Für ihn bedeute der alternative, anthroposophische Ansatz zuerst einmal nur einen hilfsbereiten, freundlichen und zugewandten Umgang mit dem Patienten, beispielweise in der Pflege. Die Patienten bekommen von den Pflegern etwa spezielle Einreibungen, Auflagen und Waschungen mit Ölen und Lotionen, die die Krankenhaus-Apotheke zu diesem Zweck eigens hergestellt. Darüber hinaus achten die Mediziner auf den Einfluss von Akustik, Licht und Gerüchen. „Natürlich gibt es aber auch Situationen, in denen schnelles Handeln gefragt ist.“ Der anthroposophische Heilungsansatz könne deswegen nicht immer in den Vordergrund gestellt werden. Aber auch auf der Intensivstation würden die Mediziner in Herdecke versuchen, so viel Lebensqualität wie möglich zu erhalten.