Zwei Hakenkreuzchen für die NPD

Norbert Mielke, Bürgermeister von Postlow, glaubt nicht, dass das Wahlergebnis das Dorf verändert. Sein Amt könnte er jedoch schon bald verlieren

AUS POSTLOW ASTRID GEISLER

Um eine Minute nach sechs lacht Bürgermeister Norbert Mielke zum letzten Mal an diesen Abend. Er hält die hölzerne Urne hoch, schüttelt ordentlich: „Na los“, ruft Mielke der Wahlhelferin zu. „Steck den Kopf tief rein in die Kiste. Vielleicht klebt da noch was!“ Hinter ihm steht ein junger Mann, hellblaues Poloshirt, rasierter Schädel. Mit glatter Miene schaut er über Mielkes Schulter.

Ein Berg gelber Stimmzettel liegt auf der Tischtennisplatte im Postlower Gemeindesaal. NPD, CDU, FDP, NPD, NPD, NPD, murmeln die Helfer, während sie die Zettel sortieren. Ein Stapel am Kopfende wächst rasant. Mielke setzt die Lesebrille auf. Einer der Männer raunt: „Ach du Scheiße.“ Der Stapel wächst weiter. Zehn Minuten später kann Mielke die Brille wieder abnehmen. Die Zahlen stehen in dem Behördenformular. Auf der Postlower Tischtennisplatte ist in diesen Minuten eine historische Partie zu Ende gegangen.

Die NPD hat 55 von 147 Zweitstimmen in der kleinen ostvorpommerschen Gemeinde gewonnen – mehr als irgendeine andere Partei bei dieser Landtagswahl. 20 Stimmen mehr als die CDU, 25 mehr als die Linke, 41 mehr als die SPD. So ein Ergebnis hatten die Rechtsextremen nie zuvor hinbekommen, nicht in Postlow, nicht in irgendeiner anderen deutschen Kommune.

Norbert Mielke starrt auf die zwei Wahlkabinen, auf die leuchtend grüne Fototapete mit Wald und Wasserfall an der Wand dahinter. Der parteilose Landwirt hatte mit vielem gerechnet: mit mehr als 20 Prozent für die NPD, mit miserablen Ergebnissen für die anderen – aber damit nicht. „Wir haben keine rechten Szene in Postlow. Wirklich nicht“, sagt er tonlos. „Das ist Frust hier, der blanke Frust.“ Der junge Helfer mit dem rasierten Schädel hört schweigend zu. „Pommern“ steht in breiten Frakturlettern auf seinem Unterarm.

Postlow, 400 Einwohner, liegt am östlichen Rand Mecklenburg-Vorpommerns, wenige Autominuten hinter der Anklamer Stadtgrenze. Ein Jahr ist es her, dass der Ort zum ersten Mal Parteigeschichte schrieb. Mit 17,4 Prozent der Stimmen hatte die NPD bei der Bundestagswahl überraschend ihr bestes Ergebnis in ganz Mecklenburg-Vorpommern erzielt. Wenige Kilometer weiter in Bargischow holten die Rechtsextremen damals 17,2 Prozent. In beiden Orten sollte es erst der Anfang sein. Auch Bargischow hat seit Sonntagabend eine rechtsextreme Mehrheit.

Einer der Gründe heißt Michael Andrejewski. Der Jurist zog vor drei Jahren in eine Anklamer Plattenbausiedlung. Damals war die NPD ein Nichts in der Region, aber es gab militante Neonazi-Kameradschaften. Andrejewski suchte ihre Freundschaft, er hatte ein Projekt, für das er sie brauchte. Arbeitslose, Firmenpleiten, Abwanderung ohne Ende. In den meisten Statistiken stand Ostvorpommern am schlechten Ende – „ideale Standortfaktoren“ für Rechtsextreme, vermutete Andrejewski. Er lag richtig. Die Menschen wählten ihn, den unbekannten Wessi, den unscheinbaren Hartz-IV-Empfänger, auf Anhieb in Stadtrat und Kreistag. Bei der Bundestagswahl lief es noch besser. Seither stand die Gegend auch für die Strategen in der NPD-Zentrale ganz oben auf der Prioritätenliste. Die Orte wurden tapeziert mit Plakaten, eingedeckt mit Handzetteln und Flugblättern. „Wehrt Euch!“, brüllte es von den Laternenpfählen hinunter auf die Dorfstraßen. Der Appell kam an.

„Aber natürlich“, sagt Kathrin Riske, 24, Jeans, T-Shirt, blonder Pferdeschanz. Sie blinzelt in die Septembersonne über dem Postlower Gemeindehaus, die Dahlien leuchten am Jägerzaun, gegenüber kräht der Hahn, Töchterchen Linda schaukelt zufrieden auf Papas Arm. Es ist kurz nach 11 Uhr am Wahlsonntag, die Familie hat ihre vier Stimmen vergeben. Wem, das ist leicht zu raten. „HBP“ steht in Frakturschrift auf dem T-Shirt der jungen Frau. Es ist das Kürzel des „Heimatbunds Pommern“, einer Vorfeldorganisation der militanten Kameradschaftsszene in der Region, die sich mit Geländespielen und ideologischen Schulungen um die Jugend bemüht.

„Na, was trinken wir, wenn wir eingezogen sind in den Landtag“, ruft eine junge Frau den Riskes im Vorbeigehen zu. Detlef Riske, 33, grinst. Jeder im Dorf weiß, wo seine Familie steht. „Die NPD ist eine zugelassene Partei“, sagt seine Frau. „Da muss man sich nicht schämen.“

Man kann sogar ein bisschen stolz darauf sein. So wie Ronny Becker. Er stoppt sein Motorrad scharf vor dem Gemeindehaus, setzt den Helm ab, rückt seine Brille zurecht und ruft auf dem Weg zum Wahlraum: „Jetzt erst mal zwei ordentliche Hakenkreuzchen machen.“ Ronny Becker ist 19, Azubi, er wählt zum ersten Mal. „Es bleibt doch nur eine, die Richtige“, sagt er. „Lustig wird das heute!“

Detlef Riske spricht nicht von Hakenkreuzen, nicht vom Spaß. Er spricht von der Arbeitslosigkeit, von der „Vertreibung“ der Menschen aus ihrer Heimat, vom Versagen der anderen Parteien. „Solange die nichts ändern, solange die sich nicht um die Probleme hier kümmern“, sagt er, „solange wird das weitergehen.“

Den Riskes geht es gut. Er arbeitet in der Anklamer Zuckerfabrik, sie studiert Betriebswirtschaft. Das Paar hat sich ein leerstehendes Haus an der Dorfstraße gekauft, wenige Schritte vom Hof des Bürgermeisters entfernt. Auch Riskes Bruder Sven ist nach Postlow gezogen. Verlassene Häuser gibt es hier mehr als genug, in einigen hängen noch die Spitzengardinchen, in anderen fehlen schon Fenster und Dach. Die Ruinen sind in Postlow nicht gern gesehen – junge Familien schon.

Wenn Ursula Behnke, 63, vor dem Wahllokal auf die NPD zu sprechen kommt, klagt die überzeugte Sozialistin erst mal gehörig: Wie schrecklich dieser Trend sei und wie schlecht die Stimmung im Ort, keine Arbeit, keine Perspektiven, nichts. Bis ihr das Beispiel der Riskes einfällt. Als die Rechten vor einiger Zeit in ihre Straße zogen, da sei ihr gar nicht wohl gewesen, erzählt die ältere Dame: Diese Glatzen! Diese Tätowierungen! Heute lächelt sie darüber. „Ganz redliche, fleißige Leute sind das. Wirklich.“ Die junge Familie sei ausgesprochen freundlich, das renovierte Haus eine Zierde für den Ort. „Ich sach mal“, sagt Ursula Behnke: „Solange die ruhig sind, geht das doch alles. Ja, wir haben Glück mit den Rechten hier im Dorf.“

Das behauptet Norbert Mielke nicht. Wenn er Zeit hat, so wie am Sonntagnachmittag im Wahlraum, dann schimpft der Bürgermeister bis er kaum noch Luft bekommt. Für die Rechtsextremen hat er nur ein paar abfällige Worte übrig. Sein liebstes Thema ist das Versagen derer, die sich Demokraten nennen. Und wenn man nur lange genug zuhört, enden alle Erzählungen des gebürtigen Postlowers in der Zeit, als das Land noch DDR hieß und der Kapitalismus ausgesperrt war. „Früher“, sagt Mielke, „da lief es hier gesittet ab. Da hatte jeder seine Aufgabe.“ Er schüttelt heftig seinen Schädel mit dem grauen Stoppelhaar. „Jetzt haben wir die Demokratie – und mein Verwaltungsamtschef hat mir erklärt, was das heißt: Was die da oben bestimmen, ist richtig.“

Mielke war nie in einer Partei, hat nie Wahlkampf gemacht für die eine oder gegen die andere. Und deshalb er hat auch den Postlowern nicht gesagt: Finger weg von der NPD! Für seine Gemeinde, glaubt Mielke, ändert diese Wahl nichts. Und die Zahlen dieses Abends dürften schnell vergessen sein. „Wir haben hier nicht die meisten Stimmen“, tröstet er sich, „in den Hochburgen wird das noch ganz anders aussehen.“

Da irrt der Bürgermeister. 38,6 Prozent hat die NPD in Postlow gewonnen – mehr als irgendwo sonst im Land. In drei Jahren bei der nächsten Kommunalwahl könnte Norbert Mielke neue Konkurrenz bekommen. Vielleicht sogar aus dem Hause Riske? Ob er das ahnt, als er mit den Stimmzettelpacken unterm Arm in seinen silbernen Volvo steigt? „Für euch gibt’s noch ein Würstchen – oder zwei“, ruft er den Helfern zu. Dann braust er davon. Der junge Mann mit dem rasierten Schädel interessiert sich dafür nicht mehr. Er schlendert bereits die Dorfstraße hinunter.