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Archiv-Artikel

Einfach nicht zu verstehen

BIOGRAFIE II Der Fall des badischen Frauenmörders Heinrich Pommerenke als Doku-Roman mit bislang unveröffentlichtem Material

Heinrich Pommerenke starb am 27. Dezember 2008 mit 71 Jahren im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg eines natürlichen und friedlichen Todes. Beinahe 50 Jahre hatte er im Gefängnis gesessen, so lange wie niemand in der Bundesrepublik. Büßen musste Pommerenke bis zuletzt für vier Frauenmorde zwischen Karlsruhe und Freiburg. Hinzu kamen mindestens zwei Dutzend Überfälle auf Frauen und Mädchen.

Pommerenkes beispiellose Verbrechen haben die Boulevardzeitungen immer wieder zu einschlägigen Blut-&-Angst-Berichten provoziert. Doch seit Mitte der 1990er Jahre gibt es eine Pommerenke-Berichterstattung, die sich auch seiner beispiellosen Gefängnisexistenz widmet und der Frage, wie lange Schuld dauert. Der Journalist Thomas Alexander Staisch hat nun ein Buch über Pommerenke geschrieben, das beides versucht: die Grausamkeit der Taten schonungslos zu schildern, das Entsetzen vor dem Täter zuzulassen – und doch dem eigenwilligen Gefangenen Pommerenke näherzukommen. Das Ergebnis ist eine Art Dokuroman, der oft geschwollen wirkt, teils unverständlich, auch chaotisch ist und dennoch ein überzeugendes Porträt einer fast unwirklichen Existenz ist.

Gründlicher als irgendwer zuvor hat Staisch die Akten studiert, bislang unter Verschluss gehaltenes Material verwendet, mit bislang unbefragten Zeugen geredet. Auch mit Pommerenke selbst hat er sprechen dürfen. Die Fülle von Fakten und Zitaten, unterfüttert mit Pommerenkes eigenen Schilderungen, montiert Staisch nicht chronologisch, sondern breitet sie als gigantisches Puzzle aus. Staisch wählt eine rhythmische, fast schwingende Erzählweise mit unzähligen verschwörerischen Querverweisen – „nichts ist erzählt, später mehr“ – und lädt den Text auf mit Gedichten, Anspielungen und Metaphern. Davon am schwersten zu verdauen ist das Pommerenke = Gott-Motiv: „Und er sah, dass es gut war.“

Wer auf diese Weise nicht bloß trocken reportieren will, halst sich eine Menge Verantwortung auf. Der historische Roman oder das Dokudrama funktionieren anders – sie haben einen Pakt mit dem Publikum, dass Handlung und Personen in groben Zügen stimmen sollten, Liebesszenen dagegen erfunden sein dürfen. Im Pommerenke-Buch aber belegt das dicht geschichtete Fakten- und Zahlenmaterial von schrullig angesammelten Besitztümern oder der empfangenen Besuche, dass es hier um soeben verstrichene Realität geht. Viele der Opfer Pommerenkes leben noch – manche hat er nur zufällig nicht umgebracht. Die poetischen Elemente dürfen aber die Wahrheit nicht sprengen.

Das wird bei Staisch immer da zum Problem und nicht zufällig auch geschmacklos, wo er seiner Hauptfigur innere Monologe andichtet: „Die Jagd war eröffnet, sein Jagdinstinkt erwacht (…) Es war exakt so, wie er es geplant hatte (…) Die Wut hatte ihn mit eisigen Klauen gepackt.“ Dabei schreibt Staisch selbst viel plausibler und macht es zu seinem dick aufgetragenen Leitmotiv, dass Pommerenke – grauenhafte Kindheit, lieblose Mutter, prügelnder Vater – dennoch schlicht nicht zu verstehen war. „Sie hörten und verstanden nicht.“

Wer das Nichtverstehen dennoch in Vertrautheit wandeln konnte, war der Gefängnispfarrer Ernst Ergenzinger, der Pommerenke überhaupt erst zu seiner zweiten Medienkarriere verholfen hat. Pommerenke wurde zu Ergenzingers Schützling, der ihn „Alter Ego“ nannte. Ergenzinger erkämpfte Urteile und Ausflüge für Pommerenke, verschaffte ihm Kontakte nach draußen, organisierte Besuche und machte mit ihm sogar Beckenbodengymnastik gegen das andauernde Bettnässen.

Die Gutachter, die Psychiater und Psychologen dagegen kamen bis zuletzt nicht mit Pommerenke zurecht und fanden unter ihren wissenschaftlichen Kriterien keines für Pommerenke. Er tötete so grausam, doch offenbar ohne Machtlust, mit überdurchschnittlichem IQ, so raffiniert und gleichzeitig so naiv. Er ließ sich im Gefängnis nicht unterkriegen. Aber wer unberechenbar ist, bekommt keine günstige Gefahrenprognose und keine Therapie, selbst wenn er niemandem mehr etwas zuleide tun könnte. Dass Pommerenke so besonders war, hat ihm seine Würde bewahrt. Aber es kostete ihn die Möglichkeit der Freiheit.

ULRIKE WINKELMANN

■ Thomas Alexander Staisch: „Heinrich Pommerenke, Frauenmörder. Ein verschüttetes Leben“. Klöpfer&Meyer, Tübingen 2010, 343 S., 22 Euro