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Archiv-Artikel

Leben um jeden Preis

MORAL Sie werben mit Plastikembryos auf Jugendmessen und demonstrieren mit weißen Kreuzen in Innenstädten. Abtreibungsgegner sehen sich als Aufklärer – und werden selbst von Ministern unterstützt

Der Kampf um den Embryo

■  Die Abtreibungsgegner: Der Bundesverband Lebensrecht ist ein Bündnis verschiedener Vereine – von der Aktion Lebensrecht für Alle bis zu den Christdemokraten für das Leben, gegründet von Unionsmitgliedern.

 Ihre Unterstützer: Grußworte zur letzten Demo im September kamen etwa vom Unionsfraktionsvorsitzenden Kauder, von Verteidigungsminister Guttenberg und Bildungsministerin Schavan.

■  Ihre Gegner: Gegen Aktionen der Abtreibungsgegner formen sich regelmäßig linke und feministische Bündnisse. Am 20. Oktober protestieren Gegner bei einem Marsch durch München. Infos: no218nofundis.wordpress.com

VON SVENJA BERGT

Die Plastikembryos sind gut versteckt. Im hinteren Bereich des Messestandes liegen sie, in einer Plastikkiste neben den Gummibärchentüten mit der Aufschrift „In welchem Alter warst du so groß wie ein Gummibärchen?“. Die Gummibärchen, erklärt Teresa Kroll, eine der Betreuerinnen des Standes, eigneten sich am besten, um die Besucher zu einem Gespräch zu bewegen. Ein niedrigschwelliger Einstieg, mit einer unverdächtigen Süßigkeit. Kroll ist Mitarbeiterin bei Kaleb, der „Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren“, die sich gegen Schwangerschaftsabbrüche einsetzt. Ihr Einsatz heute: Ein Stand auf der Jugendmesse „You“ auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin.

Kaleb ist einer von zahlreichen Verbänden in Deutschland, die Namen tragen wie Durchblick, Bundesverband Lebensrecht oder Aktion Lebensrecht für alle. Ihre Mitglieder tragen weiße Holzkreuze durch Innenstädte, stellen tausende Kinderschuhe in eine Fußgängerzone und schicken auch mal 300.000 Embryomodelle aus Plastik per Post quer durch Deutschland. Ihr Ziel: schwangere Frauen von einer Abtreibung abzubringen und sie zum Austragen des Kindes zu bewegen – notfalls auch mit fragwürdigen Zahlen, zurechtgebogenen Studienergebnissen oder verdrehten Tatsachen.

Die Abtreibungsgegner sind dabei keineswegs eine abstruse Bewegung einer Minderheit. Zu einem „Marsch für das Leben“ im September schickten unter anderem Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, Bildungsministerin Annette Schavan und der Berliner Erzbischof Georg Sterzinsky Grußworte. Es ging nicht nur um Schwangerschaft, sondern auch um Sterbehilfe und darum, dass Leben grundsätzlich so lange wie möglich erhalten werden solle. Auf der Demonstration dabei: Mitstreiter des Vereins Kaleb.

Auf der Jugendmesse geben sich die Mitarbeiterinnen zahmer. Die weißen Kreuze sind – anders als bei den Demonstrationen – im Lager geblieben. Stattdessen werden die jungen Besucher mit Gummibärchen und Buttons gelockt, mit einem Comic und mit kleinen Ansteckern in Form von winzigen silbernen Füßen. Das kommt vor allem bei jungen Frauen an. Doch nach dem Überreichen einer Gummibärchentüte und ein paar erklärenden Sätzen, in denen die Begriffe Geburt, sechste Woche, Gummibärchen und Aufklärung fallen, finden die meisten Gespräche ein jähes Ende. Wer realisiert hat, worum es hier wirklich geht, ist meist ganz schnell wieder weg.

„Es ist schon krass, wenn so jungen Leuten eingeimpft werden soll, dass Abtreibungen schlecht sind“, sagt Maya, 18 Jahre alt, die mit ihrem Freund und einer Freundin auf der Messe ist. Sie hatte sich in dem Comic festgelesen – der Geschichte einer jungen Frau, die ungewollt schwanger wird –, als eine Kaleb-Mitarbeiterin sie ansprach. „Aufdringlich und nervtötend“ sei das gewesen. „Aber man will ja nicht unhöflich sein und einfach weggehen“, wirft ihre Freundin Stephanie ein. Daher schwiegen die drei zurückhaltend und regen sich erst auf, als die Kaleb-Mitarbeiterin außer Hörweite ist. „Die stempeln alle Frauen, die ihr Kind nicht bekommen wollen, gleich als schlecht ab“, sagt Maya.

Die Medizinerin Edith Ockel kritisiert das seit Jahren. Sie hat seinerzeit in der Bundesärztekammer an den Stellungnahmen zum sogenannten Abtreibungsparagrafen 218 mitgearbeitet. „Diese Organisationen wollen mit ihrer Argumentation Frauen als Verbrecher hinstellen und Schuldgefühle hervorrufen“, sagt Ockel. Dazu trägt schon die Rhetorik bei: Abtreibung ist Mord, die Frauen also Mörderinnen, manche Gruppen sprechen von „Babycaust“. Kaleb-Mitarbeiterin Kroll sagt: „Jeder hat ein Lebensrecht und wir glauben, dass das Leben mit der Befruchtung beginnt.“ Ockel regt sich auf, wenn sie solche Sätze hört. Ein „fundamentalistischer Bezug auf die befruchtete Eizelle“ sei das. „Das Selbstbestimmungsrecht der Frau wird da mit Füßen getreten.“

Die Lebensrecht-Aktivisten sehen sich selbst als Aufklärer. Als diejenigen, die Frauen vor psychischen Problemen nach einer Abtreibung warnen, als die Stimme Ungeborener, als Instanz, wenn es darum geht, zu beurteilen, wann Leben tatsächlich beginnt. Bei ihrer Argumentation bedienen sie sich bewusst falscher Fakten. Zum Beispiel der Plastikembryo. Die Figur ist kaum so lang wie ein Daumen, etwas dicker und soll einen Embryo in der zehnten Woche zeigen. Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland, wenn es keinen medizinischen Grund gibt, innerhalb der ersten zwölf Wochen zulässig. Doch das Modell zeigt einen Menschen in Miniformat. Finger und Zehen, Augen und Nase sind zu erkennen, die Beine übereinandergeschlagen. „Diese Plastikpüppchen entsprechen überhaupt nicht der realen Form“, sagt Ockel. In der zehnten Woche seien beispielsweise Finger oder Zehen noch gar nicht ausgebildet.

Auch mit den Zahlen nehmen es die selbsternannten Lebensschützer nicht immer so genau. Bei der Zahl der Abtreibungen pro Tag wird häufig von tausend gesprochen. Das Statistische Bundesamt zählt aber über die vergangenen Jahre konstant eine niedrige sechsstellige Zahl – 2008 waren es beispielsweise 114.484. Selbst wer nur Werktage berücksichtigt, kommt damit nicht einmal auf 500 Schwangerschaftsabbrüche pro Tag. Der Bundesverband Lebensrecht schiebt es auf die Dunkelziffer – eine Behauptung, die sich weder beweisen noch widerlegen lässt.

Die Menschen, die an dem Stand auf der Jugendmesse nicht sofort das Weite suchen, sind vor allem ältere Frauen. Wie eine, die eine unverarbeitete Abtreibung hinter sich hat und das Gespräch als Therapiestunde sieht. Mütter, denen es vor allem um die Schwangerschaft an sich geht, die sie bei ihrer Tochter lieber in ferner als in naher Zukunft sähen. Und ab und an Kinder, die so jung sind, dass sie die Gummibärchtentüte aufreißen und den Inhalt verschlingen, ohne auch nur lesen zu können, was auf der Rückseite steht.