: Der Hase vor dem Taj Mahal
WEITBLICK Weihnachtsgeschichten und europäische Mythen – damit können viele Schüler aus Migrantenfamilien nichts anfangen. Einige Lehrbücher versuchen, auch andere Kulturen einzubeziehen. Und eine Schule zeigt, wie man Kinder ganz ohne Lesefibel nach Indien entführt
■ Der Wunsch: Dieser Artikel entstand auf Anregung unserer Leserin Anne G. Sie schrieb: „Ich arbeite seit fünf Jahren als Lesepatin und bin immer wieder wütend über Inhalt, Auswahl und Diktion des Lehrmaterials. Da muss im Deutschunterricht noch immer Fontane (Ribbeck) auswendig gelernt werden. Kein Migrantenkind hat den geringsten Bezug dazu. Aber wenn man ihm von den Eroberungen der Osmanen bis Wien erzählt – und damit den vorgeschriebenen Lehrplan boykottiert –, dann sind sofort Interesse und vor allem Motivation geweckt. Da liegt so viel Intelligenz brach! Es gäbe sehr wohl gut formulierte und verständliche Inhalte, aber unsere Behörden halten diese Bemühung anscheinend für unnötig.“
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VON LALON SANDER
Auf dem Markt von Bagdad hörte der Schelm Nasreddin Hodscha einst ein lautes Getöse. Ein Wirt hatte einen Bettler gepackt und schüttelte ihn am Kragen. Als Hodscha fragte, was los sei, schrie der Wirt wutentbrannt: „Dieser Strolch hat sein Fladenbrot so lange über meinen Hammelbraten gehalten, bis das Brot auch danach roch. Dann hat er es aufgegessen und nicht gezahlt.“ Das gehe so nicht, sagte Hodscha, für fremdes Gut müsse man bezahlen. Er nahm also mehrere Münzen vom Bettler, schüttelte sie in der hohlen Faust und sagte: „Jetzt seid ihr quitt: Er roch deinen Braten und du hörtest sein Geld.“
Diese Geschichte ist weltweit bekannt, auch in Deutschland. Nur dass hier der Protagonist Till Eulenspiegel heißt.
Berliner Grundschüler lesen im Deutschbuch 5 die Geschichten von Hodscha. Unter ihnen sind auch jene Kinder mit türkischen Wurzeln, denen taz-Leserin Anne G. regelmäßig als Lesepatin vorliest. „Als ich ihnen die Geschichten von Hodscha vorlas, waren sie begeistert“, erzählt G. „Ansonsten gibt es Geschichten über Weihnachten – dazu haben sie nicht den geringsten Bezug.“
Das Deutschbuch 5 wird von Cornelsen herausgegeben. Der Verlag und die Konzerne Klett und Westermann teilen 90 Prozent des Marktes unter sich auf. Der ist komplex, jedes Bundesland hat eigene Lehrpläne, braucht also eigene Schulbücher, deren Inhalt bis zur Veröffentlichung einen mehrstufigen Prozess durchläuft. Die Lehrpläne werden von Kommissionen erstellt, in denen Universitätsdozenten und Lehrer mit viel Praxiserfahrung sitzen, auch bei den Verlagen arbeiten Bildungsexperten und erfahrene Lehrer als Autoren.
Seit Jahren beschäftigen sich die Kultusminister mit Ideen für den Unterricht in der deutschen Einwanderungsgesellschaft: Der Religionsunterricht soll vielfältiger werden, Mehrsprachigkeit soll gefördert, Lehrer sollen in interkultureller Pädagogik weitergebildet werden. In den Büchern sollen mehr Migranten vorkommen. Doch Neuerungen brauchen lange, bis sie im Schulalltag ankommen. Laut dem Institut für Internationale Schulbuchforschung liegen die Inhalte mehrere Jahre hinter dem aktuellen Forschungsstand zurück. Gleichzeitig arbeiten Schulen aus Kostengründen häufig viele Jahre mit denselben Büchern, im schlimmsten Fall kann es mehr als zehn Jahre dauern, bis die auf dem neuesten Stand sind. „Die Schulbücher sind der heimliche Lehrplan“, sagt Robert Maier, der am Institut den Bereich Europa leitet.
Felix kennt sich aus
In der Dortmunder Grundschule Kleine Kielstraße gibt es solche Probleme nicht. Schon seit der Gründung Mitte der 90er Jahre werden hier keine Lesefibeln benutzt. Im Plattenbauviertel im Norden der Stadt sind zwei Drittel der Bewohner Ausländer oder Deutsche mit Migrationshintergrund, in der Grundschule sprechen nur die wenigsten Kinder Deutsch als Muttersprache. Es könnte eine dieser vermeintlichen Problemschulen sein, aber es ist keine. Die staatliche Grundschule wurde 2006 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Für ihren selbstverständlichen Umgang mit Vielfalt.
„Wir haben uns entschieden, richtige Bücher zu lesen“, sagt die Leiterin Gisela Schultebraucks-Burgkart. Zum Beispiel „Briefe von Felix“. In dieser Buchreihe verliert Sophie ihren Kuschelhasen Felix und ist untröstlich. Doch bald schreibt ihr Felix Briefe aus London, Rom oder Kairo.
In der Kleinen Kielstraße schreibt Felix aus den Herkunftsländern der Schüler. „Die Lehrer schreiben einfach neue Geschichten“, erklärt die Direktorin, etwa über das berühmte Taj Mahal in Indien. „Und wir laden Eltern ein: dann kommt auch mal eine indische Mutter in die Schule und zeigt den Kindern, wie man einen Sari wickelt.“
Auch an anderer Stelle holt der Unterricht die Kinder ab: zu Hause in Dortmund. In Sachkunde lernen sie, wie Menschen in der Gegend früher lebten; in Religion werden Geschichten aus dem Alten Testament erzählt, die dem Christentum, Islam und Judentum gemeinsam sind; in Kleingruppen üben sie Deutsch entsprechend ihren Kenntnissen. Das sind Ansätze, die auch Kindern ohne Migrationshintergrund guttun.
Bei den Schulbüchern sind inzwischen aber auch Fortschritte erzielt worden. „Unsere Geschichtsbücher sind nicht mehr so eurozentrisch wie früher“, sagt Forscher Robert Maier, die Bedeutung des Islam werde wahrgenommen, der Kolonialismus kritisch reflektiert. „Dennoch kann man nicht zufrieden sein.“ Geschichtsbücher sind heute auf subtilere Weise eurozentrisch. Immer wird eine Abfolge von Hochkulturen präsentiert: Griechenland und Rom in der Antike, das Mitteltalter, die europäischen Entdeckungen, der Kolonialismus, schließlich die Frühe Neuzeit und die Moderne. Diese Abfolge zielt im Endeffekt auf die Vorherrschaft Europas in der heutigen Zeit.
Inzwischen gilt aber: Nicht die Demokratie der alten Griechen und das Rechtssystem der Römer, auf die sich europäische Gesellschaften beziehen, haben ein liberales Europa hervorgebracht, sondern historische Umstände, die in einer seltenen Mischung vorherrschten. Kurz: Es hätte trotz der Beschäftigung mit griechischen Philosophen und römischen Juristen auch ganz anders kommen können. Historiker untersuchen deshalb nicht mehr den Aufstieg und Niedergang von Kulturen, sondern wie sich diese begegnen und beeinflussen. Dabei können bisher vernachlässigte Gesellschaften, etwa afrikanische Hochkulturen oder das Osmanische Reich, mehr Platz bekommen.
Schiller und Kalif Omar
Viele Geschichten können anders erzählt werden. Eine islamische Erzählung beispielsweise handelt von einem Mörder, der hingerichtet werden soll. Der junge Mann erbittet sich vom Kalifen Omar eine Frist von drei Tagen, in der er das Erbe seines Sohnes regeln will. Ein alter Weggefährte des Propheten Mohammed bietet sich als Bürge an. Drei Tage später ist der junge Mann noch immer nicht zurückgekehrt, nun soll an seiner Stelle der Bürge hingerichtet werden. Im letzten Augenblick taucht er aber doch auf, verschwitzt und verstaubt. Die verwunderten Menschen fragen ihn, warum er nicht einfach abgehauen sei. „Sollte die Welt meinetwegen denken, Muslime halten ihre Versprechen nicht?“, fragt der Mann zurück. Der beeindruckte Kalif Omar begnadigt den Mann.
Auch diese Geschichte ist weltbekannt, auch in Deutschland. Friedrich Schiller hat sie in der Ballade „Die Bürgschaft“ aufgeschrieben. Nur stellte sich Schiller vor, sie spiele im antiken Griechenland.