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Archiv-Artikel

Der Tod in der Bewegung

Vor 25 Jahren wurde der 18-jährige Klaus-Jürgen Rattay bei einer Straßenräumung von einem Bus überrollt. Sein Tod war ein Schock für die Hausbesetzer-Szene. Bis heute sind die Umstände unklar

Am Morgen des 22. September 1981 werden in Berlin acht Häuser geräumtAls Todesursache fand sich eine ausgedehnte Zertrümmerung des Gehirnschädels

Von Plutonia Plarre

Die einzige Spur, die sich noch findet, ist eine verwitterte Gehwegplatte. Neben dem Trafokasten an der Commerzbank unweit der Bülowstraße ist sie in den Bürgersteig der Potsdamer Straße eingelassen. „Klaus-Jürgen Rattay 22. 9. 1981“, ist in krakeliger Schrift in den Beton geritzt. Wer das war? Vorbeihastende Passanten reagieren mit Schulterzucken. „Keine Ahnung“.

Es ist 25 Jahre her. Es war eine aufwühlende, schnelllebige Zeit. Tina G., heute 51 Jahre alt, war damals Hausbesetzerin. Ihre Erinnerung an die Ereignisse sei von Gelesenem und Gehörtem überlagert. Doch der Anblick des dunkel gekleideten, menschlichen Körpers, der von einem gelben Doppeldeckerbus durch die Potsdamer Straße geschleift wird, habe sich ihr tief ins Gedächtnis gegraben. „Ich brülle und gestikuliere wie andere Demonstranten um mich herum. Merkt der Fahrer nicht, was er da unter dem Vorderrad hat?“, beschreibt sie ihre Erinnerung. „Zu mehreren rennen wir dem Bus hinterher. An der Commerzbank kommt das Fahrzeug endlich zum Stehen. Ich erreiche die Beifahrertür und trete voller Wucht in die Scheibe. Der Mann hinter dem Lenkrad reagiert nicht. Er sitzt da wie erstarrt. Mir ist schlecht. Ich wende mich ab.“

Für den 18-jährigen Klaus-Jürgen Rattay kommt jede Hilfe zu spät. Im Berliner Hausbesetzerkampf ist zum ersten Mal ein Mensch ums Leben gekommen. Zum Glück ist es der einzige geblieben.

„Als Todesursache fand sich eine ausgedehnte Zertrümmerung des Gehirnschädels“, erinnert sich der Gerichtsmediziner Volkmar Schneider. „Ein klaffender, quer verlaufender Scharnierbruch an der Schädelbasis ließ vermuten, dass der Kopf in seitlicher Richtung zusammengedrückt worden ist. Eine charakteristisch geformte Schürfung an der linken Gesichtsseite ließ an die Abdruckspur eines Reifens denken.“ Der 65-jährige Schneider hat in seinem Leben über 50.000 Leichen seziert. Alles, was Rang und Namen hat, ist über den Tisch des Professors für Rechtsmedizin gegangen. In seinem 2005 erschienenen Buch, „Brisante Fälle auf dem Seziertisch“ geht er zunächst auf die Obduktion des am 2. Juni 1967 von einem Polizisten erschossenen Studenten Benno Ohnesorg ein. „Auch die 1980er-Jahre brachten für Berlin keine Ruhe“, heißt es ein paar Seiten später, als der Autor zum Tod von Klaus-Jürgen Rattay überleitet. „Absicht oder Unfall?“, lautet die Überschrift.

Am Morgen des 22. September 1981 werden in Berlin acht Häuser geräumt. Das letzte Haus, das die Polizei räumt, ist die Bülowstraße 89 in Schöneberg. In dem Gebäude haben Punks und Obdachlose gelebt, drinnen ist es ziemlich chaotisch. Kurz nach der Räumung erscheint der damalige Innensenator Heinrich Lummer (CDU). Im Gefolge der Presse besichtigt er das Haus und lässt sich auf einem der Balkons fotografieren.

Lummers Verhalten ist für die Besetzer- und Sympathisantenszene eine Provokation. Hunderte von Menschen ziehen vor das Haus. Vom Nollendorfplatz kommend, räumt die Polizei die Straße unter Schlagstockeinsatz. Der einzige Ausweg, der den fliehenden Demonstranten bleibt, ist die Potsdamer Straße. Aber die Hauptverkehrsstraße ist nicht für den Verkehr gesperrt. Irgendwo in dieser Menschenmenge befindet sich Klaus-Jürgen Rattay.

Er wisse bis heute nicht, warum und weshalb es zu dem Tod des 18-Jährigen gekommen sei, sagt der Potsdamer Oberstaatsanwalt Wolf-Rüdiger Ludwig. Der inzwischen 65-Jährige hat damals die Ermittlungen geleitet. „Das ist meine Vergangenheit“, sagt Ludwig auf die Frage, was ihm zu dem Namen Rattay einfällt. Kripo und Staatsanwaltschaft hätten sich wirklich um Aufklärung der Todesumstände bemüht. „Es nicht geschafft zu haben, ist kein gutes Gefühl. Das können Sie mir glauben.“

Das Problem ist: Es gibt zu viele Zeugen. Je mehr Menschen von der Polizei befragt werden, desto widersprüchlicher werden die Angaben. „Über 100 Zeugen – das ist ein unvorstellbares Ausmaß“, sagt der 61-jährige Rechtsanwalt Wolfgang Meyer-Franck. Er hat die Familie des Toten rechtlich betreut. „Es ist wie immer im Leben: Jeder hat etwas anderes gesehen.“

Aus den Zeugenaussagen kristallisieren sich zwei Versionen heraus. Der Gerichtsmediziner Schneider fasst sie in seinem Buch so zusammen: Demonstrationsteilnehmer sagen aus, Rattay sei zusammen mit anderen Demonstranten auf die viel befahrene Potsdamer Straße gedrängt worden. Der Fahrer des BVG-Busses sei „dann voll auf den auf der Kreuzung stehenden 18-Jährigen zugefahren“.

Bei der anderen Version handelt es sich um die Polizeiversion, unter Berufung auf andere Zeugen: Demonstranten hätten den BVG-Bus mit Steinen beworfen. Dadurch sei die Frontscheibe und die Seitenscheibe der Fahrerkabine zerstört worden seien. In diesem Augenblick sei der mit einer Kapuze maskierte Rattay auf die Stoßstange des Busses geklettert und habe versucht, die Frontscheibe weiter zu demolieren. „Offensichtlich versuchte der Fahrer, aus dem Gefahrenbereich herauszukommen“, zitiert Schneider den Polizeibericht wörtlich. Dabei sei Rattay von der Stoßstange abgerutscht und vor ein Vorderrad geraten. Der Bus habe ihn 80 Meter weit mitgeschleift. Passanten hätten den Fahrer dann auf das Geschehen aufmerksam gemacht.

Hauptbeschuldigte in dem folgenden Ermittlungsfahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge sind der Busfahrer und ein Einsatzleiter der Polizei. Dabei handelt es sich um jenen Beamten, der es versäumt hat, die Kreuzung sperren zu lassen, bevor er den Befehl zur Straßenräumung erteilte. Zweimal stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen die beiden Beschuldigten ein. Zweimal legt Rechtsanwalt Meyer-Franck Beschwerde ein. Mit einem neuerlichen Verkehrssachverständigengutachten bewirkt Meyer-Franck, dass das Kammergericht eine mündliche Verhandlung zum Klageerzwingungsverfahren durchführen muss. Am Ende wird der Antrag aber doch abgelehnt. Die Begründung der Richter: Gegen die Beschuldigten bestehe zwar ein erheblicher Verdacht, die Beweise reichten aber nicht aus. „Dabei hat der Verkehrssachverständige in seinem Gutachten festgestellt, dass der Bus bei dem Aufprall mindestens 20 Stundenkilometer schnell gefahren ist“, erzählt Meyer-Franck. „Die Straße war voller Menschen. Er ist einfach in die Menge reingefahren. In so einem Fall ist ein Bus ein Mordgerät.“ Das hätte der Fahrer wissen müssen, egal ob ihm die Richtung der Demonstration gepasst habe oder nicht. „Es ist traurig, dass die Rechtssprechung das nicht erkannt hat.“

Unzählige Plakate, Mauersprüche und Zettel machen die Commerzbank im September 1981 zur Wandzeitung. Immer wieder versucht die Polizei mit uniformierten Einheiten, die Mahnwache auf der Straße zu räumen. Als zwei Fahrbahnen mit Blumen übersät sind, wird der Verkehr immerhin ein paar Meter umgeleitet. Hausbesetzer halten Rote Fahnen hoch, Kerzen brennen, ein Kreuz und zwei Bäume sind in das aufgerissene Pflaster gepflanzt worden. „Klaus wäre echt sauer gewesen, auf die ganze Müsli-Scheiße, die hier abgezogen wird“, zitiert die taz einen Jugendlichen, der den Toten ein wenig gekannt haben will.

In der gestrigen Ausgabe der Berliner Morgenpost wird anlässlich des 25. Todestags von Rattay ein mittlerweile pensionierter Ermittler des Staatsschutzes zitiert: „Unsere Arbeit fand in einer aufgeheizten Atmosphäre statt“, erinnert sich der Beamte. „Die linke Szene machte Rattay zum Märtyrer.“

Es gibt 1981 entsprechende Versuche. Aber sie sind nicht von langer Dauer. Lähmung und Schock trifft die Stimmung besser. „Der Tod von Rattay hat ein Erschrecken bewirkt, dass alles ernst ist. Dass Straßenkampf kein Spiel ist, dass man dabei auch sterben kann“, räsoniert ein 44-jähriger damaliger Hausbesetzer 25 Jahre später. „Wer mit Katapulten und Schraubenmuttern auf Polizisten schießt, muss auch damit rechnen, dass er unter einen BVG-Bus kommt.“

Die nächste Reaktion ist, dass sich die Hausbesetzerszene weiter aufspaltet. Der Slogan „Einer von uns. Zehn von euch“, drückt die Stimmung derjenigen aus, die ihr Heil – „nun erst recht“ – in der Militanz suchen. Die anderen sehen zu, dass sie die besetzen Häuser halbwegs solidarisch mit Gleichgesinnten durch den Abschluss von Nutzungsverträgen sichern.

Die taz kommentiert den Todesfall am 23. September 1981 wie folgt: „Das war kein Verkehrsunfall, das war nicht das Verschulden eines durchgedrehten Busfahrers. Nein, Herr Lummer, das war einzig und allein Ihre Schuld … Was Sie gemacht haben, ist Feldherrenmanier in Feindesland, Herr Lummer.“

Der 58-jährige Pfarrer Christian Müller kann sich noch gut daran erinnern, wie Lummer mit Fernsehkameras und Journalisten in das Haus ging. Er schrieb damals in seinem Augenzeugenbericht in der taz: „Die Verantwortung für das, was geschah, trägt allein Herr Lummer. Es ist instinktlos, unmittelbar nach der Räumung eine Pressekonferenz im geräumten Haus abzuhalten.“ Bei dieser Ansicht bleibt er auch heute.

Benny Härlin stand Lummer damals bei der Pressekonferenz als taz-Journalist in dem frisch geräumten Haus gegenüber. Lummer habe seinen Sieg wie ein kleiner Napoleon gefeiert. „Dass ich ihm da nicht eine gelangt habe, habe ich mir bis heute nicht verziehen“, so Härlin.

Lummer selbst lässt sich nicht mehr fragen. Nach mehreren Schlaganfällen ist der heute 73-Jährige ans Bett gefesselt. Er kann nicht mehr sprechen.

Sabine Porn, heute Moderatorin beim RBB, arbeitete damals für die taz. Ohne zu wissen, mit wem sie sprach, hat Porn Klaus-Jürgen Rattay 24 Stunden vor seinem Tod interviewt. Klaus-Jürgen, das war ein Junge mit hellblonden Haaren und dunkeln Klamotten, der in der westdeutschen Kleinstadt Kleve aufgewachsen ist, drei Monate durch Europa getrampt war und sich nun vom Berliner Häuserkampf ganz euphorisiert fühlt. „Der hatte hier sein Leben gefunden“, so Porns Eindruck in der Rückschau. Auf die Frage, ob er Angst vor der Räumung habe, hat Rattay geantwortet: „Ich hab gleichzeitig Angst und ich hab gleichzeitig Mut zu kämpfen.“

Volkmar Schneiders Buch „Brisante Fälle“ ist im Militzke Verlag erschienen. Der RBB zeigt am Montag, 25. September, um 22.15 Uhr den Film „Häuser, Hass und Straßenkampf“