Krieg am langen, ruhigen Fluss

Saša Stanišić wurde 1978 an der Drina geboren, im serbischen Teil Bosniens. Vor dem Krieg flüchtete er mit seinen Eltern nach Deutschland. Nun erscheint sein erster Roman, ein Buch der Erinnerungen – und gleich Favorit für den Deutschen Buchpreis

von JÖRG MAGENAU

Eine gute Geschichte, sagt der geschätzte Opa Slavko, ist wie ein Fluss. Sie ist ungestüm und breit, mal sanft, mal brausend. Sie nimmt Zuflüsse und Seitenströmungen auf und tritt gelegentlich über die Ufer. Solch wilde, ungestüme und poetische Geschichten erzählt Saša Stanišić in seinem Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“.

Der Fluss, um den es dabei geht, ist die Drina. Sie schlängelt sich durch diese Geschichten wie durch eine Landschaft der Erinnerung. Sie ist Kindheitsfluss und Fluss des Lebens und des Todes. „Mein Fluss“, nennt sie der junge Erzähler Aleksandar. Hier lernte er schwimmen und ging angeln. In ihrem Wasser ertrank Großvater Rafik, ein trauriger, arbeitslos gewordener Eisenbahner. An ihrem Ufer wüteten serbische Soldaten, die Fische mit Handgranaten töteten und zum Spaß auf Hunde schossen. Die Drina wird zur Zeugin der Geschichte, zur Trösterin und zur Vertrauten. Am Ende des Romans beginnt sie sogar zu sprechen. „Ich bin ein scheußlicher Aggregatzustand“, sagt sie da und klagt über all die Leichen, die sie tragen musste. Krieg macht Flüsse hässlich.

Saša Stanišić wurde 1978 in Visegrád an der Drina geboren. Damals lag es in Jugoslawien, heute gehört es zum serbischen Teil Bosniens. 1992 floh die Familie vor dem Krieg nach Deutschland. Da war er 14 Jahre alt. In Heidelberg ging er zur Schule und studierte Deutsch und Slawistik, bevor er nach Leipzig ins Literaturinstitut wechselte. Mit einem Kapitel aus dem entstehenden Roman gewann er 2005 in Klagenfurt den Publikumspreis. Jetzt ist er für den Deutschen Buchpreis nominiert, und wenn die Jury sich nur traut, ein Debüt auszuzeichnen, dann hätte sie hier tatsächlich einen hochtalentierten, leidenschaftlichen Erzähler. Es wäre zugleich auch ein Preis für das Leipziger Literaturinstitut, denn Stanišić macht kein Geheimnis daraus, wie wichtig die Diskussionen dort für ihn waren. Lang und intensiv hat er an seinem Text gearbeitet und mit Kommilitonen darüber gesprochen, sodass das Buch eine Art Gruppenlektorat durchlaufen hat.

„Wie der Soldat das Grammofon repariert“ ist über weite Strecken ein autobiografischer Roman, was nicht bedeutet, dass nicht auch die Fantasie eine große Rolle spielen würde. „Die wertvollste Gabe ist die Erfindung, der größte Reichtum die Phantasie“, sagt Opa Slavko, von dem Aleksandar seine Weisheiten bezieht. Der geliebte Opa stirbt einen schnellen Tod in den 9,8 Sekunden, in denen Carl Lewis im Fernsehen einen neuen Weltrekord über 100 Meter aufstellt. Aleksandar legt vor dem Opa ein Gelübde ab: Nie mit dem Erzählen aufzuhören. Er schreibt also gewissermaßen im Familienauftrag.

Dass nichts zu Ende geführt werden darf, gehört zu seinen wichtigsten Erkenntnissen. Weil am Ende immer das Vergehen oder das Kaputtmachen steht, muss alles Fertige aufgehalten werden. Vielleicht ahnt er da schon, dass seine Kindheit ein plötzliches Ende finden wird. Er bezeichnet sich als „Chefgenosse des Unfertigen“ und malt Bilder, denen Entscheidendes fehlt: die Drina ohne Staudamm, Hammer ohne Sichel, ein Grammofon ohne tanzende Soldaten.

Zunächst entwirft der Erzähler bunte, üppige Geschichten einer jugoslawischen Kindheit, die in der Erinnerung wohl noch schöner erscheint, als sie gewesen ist. Mehr als eine Seite braucht er, um alles aufzuzählen, was es beim großen Familienfest im Garten der Urgroßeltern zu essen gab. Doch mitten in der Idylle droht schon der Zerfall, als ein Nachbar gegen die „türkische Musik“ der Kapelle protestiert und in die Trompete des Solisten schießt. Es sind zunächst nur kleine Verschiebungen in der Gesellschaft, die der junge Erzähler kaum deuten kann. Doch sie betreffen ihn unmittelbar, denn er ist der Sohn eines Serben und einer Frau, die plötzlich als Muslimin gilt. „Ich bin Halbhalb“, lernt er auf dem Schulhof. „Ich bin Jugoslawe, ich zerfalle also.“ Da hat der Lehrer das Tito-Bild aus dem Schulzimmer schon entfernt und möchte fortan nicht mehr als Genosse angeredet werden.

Stanišić beschreibt das Hereinbrechen des Krieges konsequent aus der Perspektive des Kindes, beschränkt sich also auf das Wahrnehmbare, ohne es wirklich zu verstehen. Völlig unbegreiflich, warum die Soldaten, die in den Wohnungen randalieren, die Nachbarschaft in verschiedene Gruppen aufteilen und warum diejenigen mit den „falschen Namen“ abtransportiert werden. Im Keller stellen die Kinder das Gesehene nach. Ihre Angst ist echt, aber der Krieg ist ein Spiel. Wenn die Panzer einrollen, wünschen sie sich, mitfahren zu dürfen, und überlegen, ob die Brücke über die Drina wohl hält. „Die Brücke hielt“, zitiert Stanišić an dieser Stelle Ivo Andrić’ berühmten Roman, der die Chronik vom Zusammenleben der Völker und von den Kriegen an der „Brücke über die Drina“ erzählt. Andrić bezeichnete sie als „unentbehrliche Spange auf dem Wege, der Bosnien mit Serbien und darüber hinaus mit den übrigen Teilen des Türkischen Reiches bis nach Stambul verbindet“. „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ ist voller Bezüge auf Andrić und lässt sich als Hommage ebenso wie als ein weiteres Kapitel aus der blutigen Geschichte lesen. Auch von der Zerstörung des Andrić-Denkmals im Stadtpark wird berichtet.

Mit der überstürzten Flucht der Familie nach Deutschland ändert sich der Tonfall. Das Erzählen verliert seine Unmittelbarkeit und dient nun eher dazu, die verlorene Heimat zu bewahren. Als Buch im Buch sind Aleksandars schriftstellerische Rettungsversuche unter dem Titel „Als alles gut war“ zusammengefasst – kurze Anekdoten, deren zersplitterte Form den Schock der Zerstörungen spürbar machen. „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ handelt nebenbei auch vom Erzählen selbst und davon, wie einer zum Schriftsteller wird.

Schließlich, zehn Jahre später, treibt es ihn zurück nach Visegrád. Er ist auf der Suche nach einem Mädchen, das er damals vor dem Soldatenmob rettete. Er geht die alten Wege ab, vergleicht seine Erinnerungen mit der veränderten, zerstörten Stadt und besucht Verwandte und einstige Freunde. Stanišić sammelt Geschichten von Traumatisierten und Überlebenskünstlern, von einem alzheimerisierten Musikprofessor oder von einem Fußballspieler, der von einem Spiel gefangener Muslime gegen serbische Soldaten berichtet, in dem es buchstäblich um Leben oder Tod ging. Dabei sind es gerade authentisch wirkende Geschichten wie diese, die er erfunden hat: eine mögliche Realität, die doch die Wirklichkeit des Krieges eindrucksvoll zur Sprache bringt. Das gilt auch für die wie ein alter Mythos wirkende Anekdote von einem Rabbi, der vor seinen Verfolgern auf das dünne Eis eines Sees flieht und wundersamerweise nicht einbricht. Für die Jahre des Krieges, wo Stanišić keine eigenen Erfahrungen besitzt, springt die Fiktion ein – und: Sie hält.

Das Leben ist alles andere als ein langer, ruhiger Fluss. Am Ende blickt der Erzähler auf die Drina und auf die Brücke und kann den Impuls, die Brückenbögen zu zählen, nicht unterdrücken. Die Brücke hat gehalten. Die Drina fließt weiter. Eines aber, so heißt es da, „können weder die Drina noch die Geschichten: für beide gibt es kein Zurück.“ Aleksandar muss begreifen, dass das auch für ihn selbst gilt und sogar für sein Erzählen. So lustig, so lebensfroh, komödiantisch und schillernd er das auch tut, so traurig ist es auch. Es gibt keinen Weg zurück hinter den Krieg und den Zerfall, auch wenn dieser hinreißende Roman alles daransetzt, die verlorene Welt nicht untergehen zu lassen.

Saša Stanišić: „Wie der Soldat das Grammofon repariert“. Luchterhand Literaturverlag, München 2006, 318 Seiten, 18 €