: Wagner für Kinder
Frank Castorf inszeniert Fragmente von Richard Wagners „Meistersingern“ und Ernst Tollers „Masse Mensch“
Deutschland ist noch nie glücklich geworden mit seinen Revolutionen, die es ja durchaus gab. Wegen schlechter Witterung fanden sie im Saale statt wie bei Richard Wagner, der als Barrikadenkämpfer begann und als Autor von Bühnenweihfestspielen für seine private Mythologie germanischer Helden endete.
Noch trauriger geht es aus, wenn die Herrschaft tatsächlich gestürzt wird, wie es 1989 geschah. Der gelungene Volksaufstand hinterließ eine Generation wütender, ewig junger Männer, die trotzig darauf bestehen, dass die Welt dennoch viel zu schlecht sei für sie. Frank Castorf ist der Prototyp dieser Geisteshaltung, und ganz wie einst Wagner ist es ihm gelungen, daraus ein weltweit erfolgreiches Theater zu machen. Ein Theater immergleicher Gesten der verbissenen Verbalradikalität, das sein Publikum begeistert, weil es sich darin gefahrlos wiedererkennen kann. Die politische Wirklichkeit verschwindet in einer gespielten Provokation: Im Kern ist es ein Theater des Einverständnisses.
Dass Castorf seine Seelenverwandtschaft mit Wagner endlich auch einmal auf die Bühne bringen musste, ist unvermeidlich. Was die beiden trennt, ist nur Wagners Musik, die in ganz andere Dimensionen vorstößt als seine selbst verfassten Textbücher, die noch heute jeden Regisseur vor schier unlösbare Probleme stellen. Doch Castorf ist kein Regisseur von Theaterstücken, Texte sind für ihn beliebig austauschbare Vorlagen für hysterische junge Männer, die auf seiner Bühne herumrennen, um eine auswendig gelernte Wut herauszuschreien. Das tun sie nun auch in den „Meistersingern von Nürnberg“ weidlich, und Castorf hat ihnen, weil es so schön passt, auch noch Fragmente aus Ernst Tollers Drama „Masse Mensch“ von 1919 zum Lernen aufgegeben. Irgendwie geht es insgesamt um einen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, der unlösbar daherkommt, weil weder Individuum noch Gesellschaft irgendwelche politisch oder psychologisch bestimmbaren Eigenschaften haben.
Mag sein, dass man auch Wagners Text auf dieses Niveau herunterbringen kann. Für das Problem seiner Musik haben der Tenor Christoph Homberger und die Musiker Christoph Keller und Stefan Wirth eine überaus passende Lösung gefunden. Nur Homberger singt tatsächlich einige Passagen der Rolle des Walther von Stolzing, für die anderen Partien haben die drei aus Wagners Partitur eine Version für Klaviere, Bläser und Synthesizer arrangiert, zu der die Ensemblemitglieder der Berliner Volksbühne ihre unterschiedlich entwickelten, aber immer bescheidenen Gesangskünste ausprobieren können. Das klingt meistens sehr hübsch nach Kabarett und Kellerkunst, vor allem aber erspart es der Castorf-Gemeinde die Mühen des Hörens einer veritablen Wagneroper. Sichtbar kommen alle prächtig damit zurecht und toben sich aus. Es geht um alles Mögliche, um Kunst, Revolution, um das Ich und die Masse und um die Frauen natürlich, die allesamt Zicken sind und entweder kreischen oder schmachten – Sophie Rois, der Star in der Rolle der Eva, kann beides besonders gut.
Gäbe es nur das zu sehen, wären die zweieinhalb Stunden dieser Inszenierung kaum zu ertragen. Nichts Neues über Wagner und auch nicht über Castorf wäre zu erfahren, dessen Theater sich längst nur noch auf sich selbst bezieht. Aber Castorf hat den Hamburger Installationskünstler Jonathan Meese für das Bühnenbild gewonnen. Mit ihm zieht ein ganz anderer Geist ein, ein kindlicher, verspielter Witz, der von der ersten Minute an dem vollkommen humorlosen Geschrei Castorfs buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzieht. Ständig rollt irgendetwas weg oder hängt im Weg. Meese hat bewegliche Kulissen gezimmert und mit Grafitti-Sprüchen bemalt. Sie erzählen von „Dr. Strulli“, und Beckmesser ist „Dr. Erzchef“. Dann rollen prächtige, riesengroße Holzpferde auf, und ein Holzauto, das die Schauspieler, die darin sitzen, mit ihren Füßen herumfahren können. Auch der Holzkasten, in den der Sänger für den Wettstreit hineinklettern muss, rollt wild davon, eines der Pferde spuckt einen Strahl Milch auf den braven Hans Sachs: Alles, was in diesem Kinderzimmer geschieht, ist nur ein lustiger Traum, weiter nichts.
Auch Meeses Kunst hat ihre Quellen in deutschen Revolutionen, die gescheitert sind. Sie erinnert an die besetzten Häuser der Hamburger Hafenstraße, aber er flüchtet nicht in die herrisch beleidigte Geste des Protests, die Castorf so sehr liebt. Er weigert sich einfach, erwachsen zu werden; er spielt fröhlich weiter in einer selbst gebastelten Innenwelt und ist damit um Vieles näher an Wagner, als Castorf sich das vorstellen kann. Näher allerdings an der Musik, die hier kaum zu hören ist. In Meeses Bühnenraum klänge sie wie zurückgekehrt in ihre Heimat: ein kindliches Märchen endloser Melodien von Helden, Königen und Jungfrauen, das am Ende gut ausgeht, auch wenn die Jungs mal so mächtig herumballern müssen wie bei Castorf. Die sind eben so. NIKLAUS HABLÜTZEL