Jahre der Glut

FILMLAND ALGERIEN Der Widerstand gegen die französische Besetzung ist Ausgangspunkt der Filmreihe „Algerien nach 1954“. Intime Erinnerungssplitter stehen neben monumentalen Elendspanoramen

Mehr und mehr verlieren die Figuren die Kontrolle über ihr Leben, mehr und mehr verliert der Film „Automne: Octobre à Alger“ seinerseits die Kontrolle über seine Figuren, über seine Geschichte, die von der größeren Geschichte regelrecht überrollt zu werden scheint

VON LUKAS FOERSTER

Während in den Nachbarländern Tunesien und Libyen in den letzten Jahren Regierungen gestürzt wurden, machte der Arabische Frühling um Algerien einen Bogen. Zumindest bislang – dieses Jahr stehen Präsidentschaftswahlen an. Die Filmreihe „Algerien nach 1954“ präsentiert im Haus der Kulturen der Welt einen Querschnitt des aktuellen Filmschaffens des nordafrikanischen Landes und richtet den Blick gleichzeitig zurück, in die spät- und postkoloniale Vergangenheit, die bei den Diskussionen um die aktuellen Ereignisse in der arabischen Welt nur selten eine Rolle spielt. Die Kuratoren haben als Ausgangspunkt den Beginn des bewaffneten Widerstands gegen die französische Besetzung gewählt.

Ein Film der Auswahl greift noch weiter aus: „Chronique des années de braise“ von Mohamed Lakhdar-Hamina, 1975 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, seither nur äußerst selten gezeigt, ist ein dreistündiges Epos über die Entstehung der antikolonialistischen Bewegung. Tatsächlich läuft alles auf jenen brutal niedergeschlagenen Aufstand am 1. November 1954 zu, der als Beginn des Befreiungskriegs angesehen wird. Der Film setzt lange vorher an, im Jahr 1939, und ist um zwei Figuren herum konstruiert. Am Leidensweg des Bauern Ahmad, der das bitterarme Dorfleben aufgibt, in der Stadt aber nur noch mehr Elend findet, kristallisieren sich die Härten des Kolonialismus. Der obdachlos umherziehende, von seiner Umgebung verlachte Miloud erweist sich währenddessen als ein hellsichtiger Prophet.

Vergessener Klassiker

Es lohnt sich, diesen vergessenen Klassiker gemeinsam mit „Cartouches Gauloises“ zu sehen, dem bislang letzten Film von Mehdi Charef. Er war einer der bekanntesten Regisseure des migrantischen Cinéma beur, das vor allem in den neunziger Jahren in Frankreich von sich reden gemacht hatte. „Cartouches Gauloises“ ist ein kleinformatiger Erinnerungsfilm, der im Jahr 1962, unmittelbar vor der Unabhängigkeit, spielt und den monumentalen Elendspanoramen und auch filmtechnisch beeindruckenden Massenszenen Lakhdar-Haminas intime Erfahrungssplitter entgegensetzt.

Klug ist schon die Perspektivierung: Hauptfigur des Films ist Ali, ein Junge im Grundschulalter, der als Sohn eines Widerstandskämpfers zwar klar auf der Seite der antikolonialen Bewegung steht, gleichzeitig aber mit kindlicher Unbefangenheit auf die Welt blickt. Zum Beispiel in Alis Gesprächen mit französischen Schulkameraden werden Ambivalenzen sichtbar, die ein dem nationalen Aufbau verpflichteter Film wie „Chronique des années de braise“ – verständlicherweise – nicht zulässt.

Einer der beeindruckendsten Filme – und aus heutiger Perspektive vielleicht der sich am gegenwärtigsten, dringlichsten anfühlende – der Auswahl heißt „Automne: Octobre à Alger“, stammt aus dem Jahr 1992 und ist die bislang einzige Regiearbeit von Lakhdar-Haminas Sohn Malik. Der Film beschreibt eine Situation, die einige Parallelen aufweist zu den Ereignissen der letzten Jahre in Ägypten, Tunesien, Libyen: Einerseits gibt es viele junge Menschen, die unter Polizeiwillkür und staatlicher Bevormundung leiden; andererseits formiert sich eine religiös motivierte Protestbewegung, die gegen Verwestlichung und Frauenrechte zu Felde zieht. Tatsächlich stürzte ein Bürgerkrieg Algerien kurz nach Erscheinen des Films ins Chaos.

Fronten in der Familie

Im Film reichen die Fronten bis in die Familien hinein: Jihad, die Hauptfigur, ist ein Rockmusiker, der seine eigene Freiheit schützen möchte. Darüber hinausgehende politische Kämpfe aber sind ihm eher fremd – auch der seiner Frau für die feministische Emanzipation. Jihads Bruder wiederum ist streng religiös, drängt auf entsprechende Kleiderordnungen selbst im privaten Raum. Dass die Zweckbündnisse zwischen den verschiedenen Fraktionen, die in Lakhdar-Haminas weit ausgreifendem und grundsätzlich inklusiv angelegtem Film zu Wort kommen, kaum von Dauer sein dürften, scheint der Film selbst zu ahnen: Mehr und mehr verlieren die Figuren die Kontrolle über ihr Leben, mehr und mehr verliert der Film seinerseits die Kontrolle über seine Figuren, über seine Geschichte, die von der größeren Geschichte regelrecht überrollt zu werden scheint.

Mindestens ebenso wichtig ist ein kurzer Moment der Utopie: Von allen Seiten bedrängt, flüchten sich Jihad und seine Frau einmal für schnellen Sex in eine Seilbahnkabine. Beim Aussteigen begegnen sie einem anderen Paar, das auf dieselbe Idee gekommen ist: ein paar Minuten der Intimität hoch oben über der Stadt, am Drahtseil schaukelnd, der Realität abgetrotzt.

■ „Algerien nach 1954“, Haus der Kulturen der Welt, bis 30. März