: „Deutlich mehr Lernzuwächse“
Integration und neue pädagogische Ansätze: Norddeutschlands Gesamtschulen sehen sich als Antwort auf Pisa. Ein Gespräch mit Jürgen Rieckmann, der eine Fachtagung zum Thema Gesamtschule in Hamburg organisierte
taz: Herr Rieckmann, wie ist die Lage der Gesamtschulen im Norden?
Jürgen Rieckmann: Sehr unterschiedlich. In Niedersachsen ist die Gründung neuer Gesamtschulen per Gesetz verboten, obwohl es eine große Nachfrage gibt. Das ist schon extrem. In Bremen sind gerade sechs neue Gesamtschulen aus Schulzentren entstanden. Die nennen sich jetzt anders: Stadtteilschule. In Hamburg wird über ein Zwei-Säulen-Modell aus Gymnasien und Stadtteilschulen diskutiert. Und in Schleswig-Holstein soll jetzt neben der Gesamtschule die Gemeinschaftsschule kommen.
Das Motto ihrer Tagung hieß: Gesamtschule, Antwort auf Pisa. Stimmt das? Bei Pisa 2003 schnitten Hamburgs Gesamtschulen schlechter ab als bayerische Realschulen.
Doch, es stimmt. Man kann die Schülerschaft von der Ausgangslage her nicht mit denen des Gymnasiums vergleichen. Aber Gesamtschulen verhelfen zu deutlich mehr Lernzuwächsen als andere Schulen. Wir haben dafür eindrucksvolle Zahlen. Von unseren neuen Oberstufenschülern im Jahr 2004 hatten 71 Prozent in Klasse 4 keine Gymnasialempfehlung.
Aber selbst an Gesamtschulen soll die soziale Herkunft über den Bildungserfolg entscheiden.
Stimmt, auch uns gelingt es nicht, diesen Zusammenhang völlig aufzubrechen. Wir mildern ihn nur ab. Wir vermuten eine Ursache dafür in der äußeren Fachleistungsdifferenzierung. Leider zwingt uns die Kultusministerkonferenz (KMK) in Mathematik weiter ab Klasse 8 in A und B-Kurse zu differenzieren. In den übrigen Fächern dürfen wir aber neuerdings binnendifferenziert im Klassenverband unterrichten. Schwerpunkt unserer Tagung war die Hospitation in Hamburger Gesamtschulen, die dies bereits umsetzen. Von den 38 Schulen ist es jede vierte.
Also muss aus Ihrer Sicht Schleswig-Holstein die Gemeinschaftsschule nicht neu erfinden?
Eigentlich handelt es sich um dieselbe Sache: eine Integrationsschule. Man nennt es nicht Gesamtschule, weil sich das Wort politisch nicht durchsetzen lässt.
In Hamburg soll es besagtes Zwei-Säulen-Modell geben. Sehen Sie dies als Chance oder Gefahr?
Weder noch. Unsere Position ist, dass ein Zwei-Säulen-Modell die Probleme nicht löst. Falls es beschlossen werden sollte, sind die Gesamtschulen stark genug, um durchzusetzen, dass sie weiter nach ihren pädagogischen Grundsätzen arbeiten. Würde Hamburg mit Gewalt die Gesamtschule platt macht, so dass es sie nicht mehr gäbe, würden Eltern zu 70 Prozent ihre Kinder aufs Gymnasium schicken. Dann wird das eben die neue Gesamtschule.
Was ist ihre Strategie für die Zukunft?
Weiterhin deutlich machen, dass die Gesamtschule am besten die sozialen Lücken schließen kann. INTERVIEW: KAIJA KUTTER