: „Es geht nicht um Krötentunnel“
Franziska Eichstädt-Bohlig
Gelassen, geerdet, pragmatisch – so wird Franziska Eichstädt-Bohlig beschrieben. Ausufernde Leidenschaften kommen der 65-Jährigen, die im Krieg geboren wurde und sich noch an die Flucht aus Dresden erinnern kann, kaum in die Quere. Siegesposen sind ihr fremd. Dabei ist die Spitzenkandidatin der Grünen die eigentliche Gewinnerin der Abgeordnetenhauswahl. Vier Prozentpunkte hat ihre Partei zugelegt. Mit der Disziplin einer Yoga-Schülerin stürzt sie sich nun auf die vor ihr liegenden Aufgaben. Die Stadtplanerin ist vom Aufbruch der 68er-Generation geprägt. Später engagierte sie sich für behutsame Stadterneuerung. Zur Wendezeit war sie parteilose Baustadträtin in Kreuzberg. Erst 1993 trat sie den Grünen bei, für die sie bis 2005 im Bundestag war
Interview Waltraud Schwab
taz: Herzlichen Glückwunsch, Frau Eichstädt-Bohlig. Wie fühlen Sie sich als Wahlsiegerin?
Franziska Eichstädt-Bohlig: Am Sonntagabend bin ich auf Wolken gegangen. Tags drauf kehrte der Alltag ein. Ich muss die neue Fraktion aufbauen, erste Gespräche mit der SPD führen, überlegen, wie die Politik, die wir als Ideengebilde dargestellt haben, jetzt wirklich werden kann.
Spricht hier schon ganz die Pragmatikerin?
Ich glaube, ich kann beides verbinden: Ziele und Utopien mit Pragmatismus. Trotzdem wälze ich in der Nacht dann so Fragen: Wie macht man Berlin zukunftsfähig? Wie zu einer Modellstadt für moderne Politik? Das ist sehr anspruchsvoll, weil die Stadt so viele Probleme und so wenig Geld hat.
Das sind doch jetzt Standardsätze.
Da irren Sie sich. Es geht nicht um Floskeln. Sondern darum, ob es gelingt, eine neue Aufbruchstimmung in Berlin zu erzeugen. Ich will herausarbeiten, wie die Beziehung zwischen Politik und Bürgern verändert werden kann. Kann man gegen den Politikverdruss angehen? Kann Politik die Menschen motivieren, bei der Modernisierung der Stadt mitzumachen?
Und was heißt das konkret?
Nehmen wir Bildungspolitik: Senator Böger hat ein gutes Schulgesetz gemacht. Aber er hat mit den Schulen nicht konstruktiv den Dialog gesucht und sie mitgezogen, sondern Überforderung und Abwehr geerntet. Es muss gelingen, bessere Politik durch Kommunikation und Dialog zu machen.
Im Gespräch mit grünen Landespolitikern taucht dieses Motto – Politik durch Kommunikation – sehr oft auf. Warum wird es derzeit so betont?
Weil das Thema Wertorientierung neu in der Gesellschaft verankert werden muss. Es ist eine generelle Erkenntnis, dass Politik nicht alles lösen und den Menschen die Probleme abnehmen kann. Vielmehr muss man sich fragen, ob das nicht oft gesellschaftliche Probleme sind, die wir ausschließlich als politische Probleme definieren.
Heißt das, Sie sind eine Politikerin, die die Gesellschaft nicht nur legislativ gestalten, sondern auch neu interpretieren will?
Ich bin eine Politikerin, die merkt, dass die alten Instrumente alleine nicht mehr tragen. Vielleicht war das schon immer so. Aber man hat zu lange die Illusion gehabt und vor allem in Berlin die Haltung eingenommen, dass Politik nur mit Gesetzemachen und mit Geldverteilen zu tun hat. Wenn wir aber sagen, Zukunftsinvestition ist Investition in die Menschen, dann klingt das zwar stereotyp, ist aber gleichzeitig eine dramatische Veränderung des Denkens. Nicht so sehr für uns Grüne, aber für die anderen Parteien, die primär in Autobahnen, Messen, Riesenrädern oder Technikinfrastruktur denken.
Für Ihre Prämissen müssen Sie nun in den Sondierungsgesprächen mit den Sozialdemokraten Terrain erobern. Noch sitzen Sie nicht im Senat. Sagen Sie uns bitte, was Sie im Korridor der Macht mit Ihrer Kommunikation erreicht haben.
Alles ist offen. Ob die SPD sich für Rot-Rot oder Rot-Grün entscheidet, weiß ja noch niemand. Mehr werde ich jetzt nicht sagen.
Unterscheidet sich die Wahlkampfrhetorik von den Inhalten, über die in Sondierungsgesprächen gesprochen wird?
Bei mir nicht. Ich bin vor und nach der Wahl der gleiche Mensch. Ich bin mir sogar sicher, dass das bei vielen anderen auch der Fall ist. Das ist ein Klischeebild.
Dazu haben die Politiker einiges beigetragen.
Sicher haben Politiker den Menschen viel zu lange versprochen, Probleme zu lösen, die sie gar nicht lösen können. Ich habe im Wahlkampf jedoch erlebt, dass die Menschen es honorieren, wenn ich ihnen gegenüber ehrlich bin. Wenn ich sage, dass man die Arbeitslosigkeit nicht in Nichts auflösen kann. Eigentlich wurde das von mir auch nicht erwartet. Was eher erwartet wird, ist ein positives Leitbild. Das zeigt, dass hinter dem Politikverdruss die Sehnsucht nach Kommunikation und Ehrlichkeit steckt.
Sie bestätigen in diesem Gespräch bisher Ihren Ruf, sehr ausgewogen zu sein und den Blick nach allen Seiten zu richten – in die Vergangenheit und in die Zukunft. Hat das auch etwas mit Ihrer Generation zu tun? Sie sind im Krieg geboren worden und wurden von der Aufbruchsbewegung der 68er beeinflusst.
Mein Engagement für die Zukunft gilt manchen als übertrieben. Aber für mich sind Demokratie und Menschenrechte sowie Umweltschutz und Nachhaltigkeit wesentliche Grundkategorien. Umweltschutz ist Schutz des Lebens. Ich könnte es pathetisch auch Bewahrung der Schöpfung nennen. Ein humanistisches oder christliches Ideal. Ich sage das, obwohl ich nicht religiös bin. Das andere, was ich an grüner Politik wichtig finde, ist argumentative Politik.
Was meinen Sie damit?
Nicht einfach nur Politik zu machen, weil meine Ideologie mir sagt, ich muss für die Umwelt dieses oder jenes durchsetzen – und sei es ein Krötentunnel. Sondern ich engagiere mich ehrlich dafür, der nachwachsenden Generation so viel wie möglich an heiler Welt zu hinterlassen. Ich gehöre zu jener Generation, die von der BRD-Wohlstandsgesellschaft begünstigt ist. Ich habe trotz Studentenrevolte einen Job gefunden, habe einigermaßen passabel meinen Lebensunterhalt und den meiner Familie hingekriegt. Jetzt sehe ich viele Jüngere, die dieses Privileg nicht haben. Noch schlimmer: Sie werden zusätzlich mit Problemen konfrontiert, die meine Generation zu verantworten hat.
Und das treibt Sie um?
Ich möchte ein Maximum für diese nachwachsenden Generationen erhalten an Lebens- und Gestaltungsraum. Politische Fehler der Vergangenheit haben aber dazu geführt, dass Berlin 60 Milliarden Euro Schulden hat. Ein großer Batzen stammt aus verfehlter Wohnungspolitik, vor der ich schon in den 70er-Jahren gewarnt habe. Mir ist es nicht gelungen, Berlin damals zu einer besseren Politik zu bewegen. Ein zweiter Batzen stammt aus dem Bankenskandal. Diese Sünden sind für mich ein Antrieb, dass ich jetzt dazu beitragen will, den Berg abzutragen. Ich sehe, wie falsche Politik oft die Zukunft der Gesellschaft belastet.
Das heißt, Sie übernehmen sowohl für die Vergangenheit als auch die Zukunft Verantwortung. Ist das nicht eine Haltung, die die Kriegskindergeneration geradezu prägt?
Dass die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und mit der Rolle der Eltern für meine Generation eine zentrale Rolle spielte, ist klar. Ich habe mit meinen Eltern, die sich vom Nazitum fern hielten, Glück gehabt. Mein Vater hatte eine unheimliche Wut, dass seine Jugend durch Faschismus, Krieg und die Nazi-Verbrechen zerstört wurde.
Als Pragmatikerin unter den Kriegskindern sind Sie Stadtplanerin geworden. Das hat doch was Symbolisches: Sie haben bestimmt die kaputten Städte noch erlebt?
Ich habe viele kaputte Städte gesehen, ich bin ja in Dresden geboren. Aber die Stadtplanerprägung ist eher entstanden aus Kritik am Nachkriegswiederaufbau. Man setzte auf Straßenschneisen, Stadtautobahnen, Großsiedlungen. Kleinteilige Urbanität wurde zerstört.
Früher Schuttberge – heute Schuldenberge. Dagegen setzten Sie Ihre Visionen?
Moderne Großstadtpolitik ist Politik weg von der Industriepolitik, hin zur Wissensgesellschaft. Die Wettbewerbsfähigkeit Berlins und eine neue soziale Gerechtigkeit können wir nicht nur mit Geld schaffen. Stattdessen geht es darum, die Jugend zu bilden, sie so gut wie möglich zu qualifizieren und daraus ein Maximum an Wirtschaftskraft und ein Maximum an Nachhaltigkeit zu generieren. Das schafft man nicht, wenn man an dem Bild hängen bleibt: Ich buddle aus der Erde die Kohle, ich schmiede damit Eisen, ich baue damit eine schwere Maschine, an der Maschine arbeitet unsere Gesellschaft, damit schaffen wir Wachstum und Wohlstand. Heute muss viel experimenteller und kreativer gedacht werden.
Das sagt sich so leicht. Wie wollen Sie es machen?
Ich möchte eine neue Balance zwischen moderner Forschung und alltäglichem Wirtschaften. Wie wäre es, wenn mit der Erdwärme im Umland Unterglasgartenbau betrieben würde? Damit könnte Berlin und das Umland auch im Winter mit Sommergemüse versorgt werden. Es geht darum, diese Dinge wieder neu zusammenzuführen, und nicht um getrennte Wirtschaftssektoren wie: Landwirtschaft ist erster Sektor, Industrie ist zweiter Sektor, Dienstleistung ist dritter Sektor.
Sie trauen sich zu, damit anzufangen, ganz ohne Ressourcen?
Da bin ich wieder das Nachkriegskind: Ich musste auf den Feldern die Zuckerrüben sammeln. Es geht mir nicht um ein kitschiges Nachkriegsbild. Aber es zeigt, dass es möglich ist, Kräfte und Kreativität zu mobilisieren, wenn eine Gesellschaft es will. Und ich glaube, Berlin will es.
Gehört es zu Ihren Überlebensstrategien, sich ein größeres Ideal auszudenken, wenn die Wirklichkeit desolat daherkommt? Heute nennen Sie es Utopie oder Modellstadt Berlin, früher war es vielleicht der kindliche Tagtraum.
Von den Schwierigkeiten, dass wir Geld, Schulden und wenig Arbeitsplätze haben, will ich mich nicht kleinkriegen lassen. Jammern liegt mir nicht. Vielleicht hat es was mit der Biografie zu tun. Darüber hab ich noch nie nachgedacht, weil ich trotz Krieg und Flucht das Gefühl habe, dass ich eine schöne Kindheit hatte.
Und wie war es, als Ihre Mutter Selbstmord beging? Sie waren damals elf Jahre alt. Wie steckt man so etwas weg?
Unter dieser Erfahrung hab ich mehr gelitten als unter der Nachkriegszeit. Als Kind habe ich mich lange geweigert, das zu akzeptieren. Ich sagte mir immer, sie kommt eines Tages wieder.
Sie haben also eine positive Perspektive darüber gelegt.
Gut, das gilt jetzt für meine Mutter.
Später im Beruf haben Sie auch positiv vorgedacht. Etwa bei den Hausbesetzungen – da steckt Visionäres drin. Aus Besetzung wurde Instandbesetzung.
Wir wollten diese Häuser retten. Ich bin einfach ein handlungsorientierter Mensch. Ich will was tun, was Sinn und Zukunft hat.
Gibt es denn niemals etwas, was Sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringt?
Doch, wenn jemand nicht bereit ist zu handeln, obwohl er es könnte.