Wo Kreative den Ton angeben

Die Zentren der jungen Kreativen verstreuen sich mittlerweile über ganz Berlin. Eine Bustour im Rahmen der „Experimentdays“ zeigt, wie weit verzweigt und vielschichtig die Szene inzwischen ist

Von Nina Apin

Die kreative Klasse hat sich gut versteckt in Lichtenberg. Der „Heikonaut“, eine vielbeachtete Hausgemeinschaft von Kulturschaffenden, liegt abseits des Betriebsbahnhofs Rummelsburg hinter Bäumen, wo sich die breite Sewanstraße verwirrenderweise mit sich selbst kreuzt.

Nicht alle, die sich für die von den alternativen Stadtentwicklungstagen „Experimentdays“ angebotenen Bustour durch „kulturwirtschaftliche Zentren der Stadt“ angemeldet hatten, fanden gleich den Weg nach Lichtenberg. „Wir sind ziemlich ab vom Schuss“, sagt Axel Watzke vom Designbüro anschlaege.de, der die Gäste durchs Haus führt.

Elf Designer, Modemacherinnen, Fotografen, Künstler und Autoren haben sich in einer leer stehenden DDR-Kindertagesstätte eingemietet, um fernab von Mitte eine Art kulturellen Thinktank zu schaffen. Im Garten steht eine Bank mit selbst genähten Sitzkissen, drinnen herrscht pittoreskes Chaos. Für die Teilnehmer der dreistündigen Bustour liegen bunte Kindergartentäschchen mit Verpflegung bereit. Die Kuschelatmosphäre trügt freilich: Im „Heikonaut“ wird gewinnorientiert und vernetzt gearbeitet.

Alle Heikonauten, darunter das Modelabel c.neeon und die Kommunikationsdesignerin Kathi Käppel, können von ihrer Arbeit leben – auch weil sie sich Ressourcen und Kompetenzen teilen. Anschlaege.de fungieren als Vermieter, ihre Belegungspolitik bezeichnet Watzke als „gelenkte Demokratie“: Etwa 200 Euro warm kostet ein Raum, wer reinkommt, muss zur Gemeinschaft beitragen. Schwer beeindruckt lassen sich die 20 Gäste, darunter auch die Mitveranstalter Florian Schöttle, der Landesatelierbeauftragte, und Katja Niggemeier von der Beteiligungsinitiative Equal, durchs Haus führen.

„Wir sind kein Zwischennutzungsprojekt“, betont Axel Watzke. Die „Heikonauten“ sind gekommen, um im Kiez zu bleiben. „Wir wollen mit den Nachbarn zusammen an der Belebung des Kiezes arbeiten.“ Erste Kontakte zu den Bewohnern gibt es bereits: Eine pensionierte Industrieschneiderin aus der Nachbarschaft näht jetzt für c.neeon; ihr Mann, gelernter Maurer, erledigt Arbeiten am Haus.

Die Gruppe verlässt die Kita und besteigt den Reisebus. Florian Schöttle gibt den Reiseführer und weist auf die Kreativgemeinschaft BLO im Weitlingkiez hin, ein Ableger des wegen Sanierung geschlossenen Milchhofs in Mitte. „Dass ausgerechnet in Lichtenberg so viel passiert“, staunt eine junge Modemacherin.

Schöttle schimpft über die Bahn als Grundstückseignerin, die sich kreativen Ansiedlungen gegenüber unkooperativ zeige. Etappe zwei ist dafür ein Paradebeispiel: Die seit 1999 im ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk Friedrichshain ansässige Künstlergemeinde „RAW-Tempel“ – ein eingetragener Verein – bangt um ihre Existenz. Die Bahn-Tochter Vivico will die bisher geduldeten Künstler räumen und auf dem 10.000 Quadratmeter großen Gelände ein Shoppingcenter errichten.

Der Mann, der im Auftrag des Vereinsvorstands eine zweiseitige Erklärung verliest, möchte sich ganz bemüht von kreativwirtschaflichen Zentren wie dem Heikonauten absetzen. Man sei eine der letzten alternativen Nischen der Stadt, ein Rückzugsgebiet für „Sonnenputzer“ und Überlebenskünstler vor dem kapitalistischen Verwertungsdruck. Besichtigen dürfen die Besucher nichts; an Metallwerkstätten und Klettergarten vorbei geht es zurück. „Die stehen ganz schön unter Druck“, kommentiert ein Architekt.

Im Bus erinnert Florian Schöttle daran, wie viele Kreativprojekte ihre Wurzeln in alternativen Zusammenhängen aus der Hausbesetzerszene hätten. Nicht alle könnten und wollten den Sprung zur effizienten Kulturwirtschaft vollziehen.

Vorbei geht es am ehemaligen DDR-Modebetrieb „Treffmodelle“ in der Greifswalder Straße, wo die Treuhandgesellschaft TLG alle Kreativen auf die Straße setzte – obwohl der Prenzlauer Berg längst vom Image seiner rund 7.000 künstlerisch arbeitenden Freiberufler lebt. Inzwischen hat der Bezirk einen Investor aufgetan, der das Haus kaufen und wieder zu einem Kreativzentrum machen will.

Der Bus passiert die Backfabrik, ebenso wie die nahe Kulturbrauerei ein Beispiel gescheiterter Luxus-Kreativzentren. „Mehr als sechs Euro Warmmiete gehen in Berlin nie“, sagt Schöttle. Beide „Kulturfabriken“ befänden sich finanziell in großen Schwierigkeiten.

Immer mehr Kreative wandern aus dem übersättigten Prenzlauer Berg in den Wedding, wo noch billiger leer stehender Raum zu haben ist. Zum Beispiel im Christiania, einem ehemaligen Bewag-Umspannwerk in der Osloer Straße, gleichzeitig Endpunkt der Tour. Das denkmalgeschützte Backsteingebäude aus den Zwanzigerjahren beherbergt 17 Freiberufler aus den Bereichen Fotografie, Design, Film, Musik und Theater. 2005 als EU-geförderte Zwischennutzung gestartet, will Christiania als Genossenschaft das Haus von Vattenfall kaufen, um auch weiterhin selbstbestimmt arbeiten zu können.

„It’s all so interesting, but very complicated“, sagt ein schwedischer Student. Für seine Diplomarbeit über Kreativzentren war die Tour bestimmt eine große Hilfe.