piwik no script img

Archiv-Artikel

Holz hinterm Schienbein

Beim Münchner Oktoberfest feiern Dirndl und Krachlederne alljährliche Renaissance. Über Tradition und Bedeutung, Modewahn und Schönheitsideale männlicher und weiblicher Wiesnbesucher

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Im Nachtprogramm des Bayerischen Fernsehens laufen dieser Tage Bilder vom Oktoberfest. Nicht bloß vom heurigen, 173. Oktoberfest, sondern auch von längst vergangenen. Die Aufnahmen erzählen nicht nur, wie die Maß teurer und die Fahrgeschäfte moderner werden, der Rausch aber immer gleich bleibt. Sie erzählen von Dirndl und Lederhose, von Frauen und Männern in stolzen Gewändern, Macht und Ohnmacht der Tradition

Noch in den Fünfzigerjahren sah das Oktoberfest aus wie ein 14-tägiger Trachtenumzug. Später wurden die Stile legerer, die Menschen ein wenig weltgewandter. So zumindest nannte man das damals, wenn sich ein Mann, eine Frau oder eine ganze Generation der Alltäglichkeit einer Tracht entledigt hatte. „Bäurisch“ kleideten sich jene, die die Stofflichkeit einer regionalen Verortung am Leibe trugen: die geschichteten Unterröcke, die dem Jahres- und Lebenslauf angeschmiegten Rituale aus Hauben und Haarbändern, Stickereien und Schürzen. „Städtisch“ sagte man jenseits der Stadt zu jenen, die sich aus Boutiquen oder dem Versandhaus kleideten. Irgendwann kleideten sich alle „städtisch“, was diese Unterscheidung obsolet werden ließ.

Auch wenn Tracht und Dirndl im Stadtbild eher selten zu sehen sind – alljährlich feiern sie ihre Renaissance auf dem Oktoberfest. Die Münchner Bussi-Gesellschaft – sonst eine Horde überzeugter Haute-Couture-Hamsterkäuferinnen – tauscht dieser Tage Dolce & Gabbana gegen Dirndl. Die Spieler des FC Bayern München laufen in der Krachledernen auf der Wiesn auf, und kaum jemand kommt auf die Idee, das Dirndl zu etwas anderem als zur Mode zu verklären.

Schon deshalb, weil selbst Verona Pooth, ehedem Feldbusch, gerade ihre eigene Kollektion vorgestellt hat: Jeans-Dirndl mit babyblauen Puffärmelchen und maßlos güldene Sonnenblumen.

Männer stierten ja eh nur in den Ausschnitt, durfte Veronas Franjo aus diesem Anlass sekundieren. Das sogenannte „Holz vor der Hütte“ findet sein Pendant in der Männerwelt: Die plastische Chirurgie hat das Geschäftsfeld der operativen Wadenmodelierungen in den vergangenen Jahren ausgebaut.

Was sind das eigentlich für Rollen, die dieser Tage in München aufgeführt werden? Rollen rückwärts im neokonservativen Befindlichkeitsgewand? Rollen seitwärts, hinein in ein spätsommerliches Karnevalsvergnügen, ein Oktoberkostümfest? Rollen vorwärts, listig und spielerisch im Umgang mit Gewand und Geschichte? Es ist vielleicht die postmoderne Beliebigkeit – von allem ein bisschen.

„Die Tracht hat Kultur“, sagt deshalb Marcus Meindl, Juniorchef des traditionsreichen Trachtenhauses Meindl. Nicht ohne hinzuzufügen, dass es letztlich darauf ankommen würde, „mit welcher Überzeugung man etwas trägt“. Mindestens das also haben eine Hirschlederne und Archgeweih gemeinsam. Es geht um die Haltung, die Attitüde, mit der man eins wird mit seiner (zweiten) Haut.

Nun hat diese Haltung auf dem Oktoberfest eine überschaubare Halbwertszeit. Kaum eine der mehr oder minder prominenten Trachtträgerinnen wird das Dirndl nach der Wiesn zum Alltagsoutfit machen. Selbst Claudia Roth, die sich in ihrer samtig roten Version ausnehmend wohl zu fühlen schien.

Und doch erzählen diese Bilder mehr als nur ein flüchtiges „Schaut her, ich hab mich verkleidet“. Sie erzählen vielmehr von diversen, in sich widersprüchlichen Botschaften, die dem Dirndl eingeschrieben sind: eine „gesunde“ Körperlichkeit, eine breit ausgestellte Weiblichkeit, ein neues Biedermeier und ein lustvolles Laben am Gestern. Erzählen von Distinktion durch Tradition und doch auch gleichzeitig von etwas Vulgärem, „auf der Alm da gibt’s koa Sünd“ eben.

Wie hatte es doch Hubert von Goisern in seinem größten, einzigen Hit besungen: „Koa Hiatamadel mag i nit. Hät koane dickn Wadln nit. I mog a Dirndl aus da Stadt. Was dicke Wadln hat.“

Bei diesem schmissigen Stück Neo-Volksmusik handelt sich kaum zufällig um eines der meistgespielten Lieder auf den Oktoberfestbühnen.