: Blairs langer Abschied
VON DOMINIC JOHNSON
Parteitage in Großbritannien, zumal Labour-Parteitage, sind Theateraufführungen. Keine Rede, kein Auftritt, kein Antrag wird dem Zufall überlassen. Dieses Jahr wird die Regie besonders wichtig. Denn für Tony Blair, Labour-Chef seit 1994 und britischer Premierminister seit 1997, wird es der letzte in diesen beiden Ämtern sein.
Als Strahlemann hatte Blair in den 90er-Jahren seine Karriere begonnen, als Buhmann verlässt er nun die politische Bühne. Unmerklich und doch zum Schluss rapide hat sich der Absturz eines Politikers vollzogen, der zu Anfang nichts falsch machen konnte und jetzt nichts richtig macht. Früher galt Blair als weitsichtig und visionär, für Erneuerung aufgeschlossen. Heute halten die Briten ihn für selbstherrlich und abgehoben, kapriziös und unbeholfen zugleich.
Blairs letzter Wahlsieg am 5. Mai 2005 war schon mühevoll – 36 Prozent für Labour, gegen 33 Prozent für die oppositionellen Konservativen. Er gewann nur, weil er versprochen hatte, dies werde seine letzte Amtszeit. Die Londoner Anschläge vom 7. Juli boten Blair eine letzte Gelegenheit, seinen legendären Instinkt für das Verhalten in Krisenzeiten auszuspielen. Doch in diesem Jahr ist der Premier aus den Skandalen und Affären nicht mehr herausgekommen, und mit ihm seine Partei. Die nimmt ihm das übel. Klar, um heutzutage Wahlen zu gewinnen, musste Labour sozialistisches Denken begraben und sich professionalisieren – das war Blairs Pakt mit Labour: ich bring euch an die Macht, dafür lasst ihr mich regieren. Aber jetzt ist das vorbei.
Eine Parteispendenaffäre im Frühjahr machte deutlich, wie tief Labour unter Blair gesunken ist. Weil Parteispenden in Großbritannien öffentlich deklariert werden müssen, hatte Blair zur Finanzierung seines Wahlkampfs 2005 unter Umgehung der eigenen Parteistrukturen „Kredite“ von reichen Gönnern angeworben. Der Wahlkampf kostete 18 Millionen Pfund (26 Mio. Euro), die geheimen Kredite betrugen 14 Millionen. Die heimlichen Gläubiger waren finanziell dominant – und Blair sah sich offenbar nicht nur finanziell in ihrer Schuld: einige von ihnen bekamen Sitze im britischen Oberhaus, wurden also Parlamentarier auf Lebenszeit; wieder andere von ihnen erhielten fette staatliche Aufträge für ihre Unternehmen. Viel korrupter kann Politik gar nicht sein.
Skandale und Affären hat Labour seit 1997 schon viele erlebt. Aber dieser war der erste, der sich an der Wahlurne rächte. Bei den Kommunalwahlen am 5. Mai 2006 landete Labour auf dem dritten Platz. Seitdem liegen die Konservativen in den Umfragen stetig vorn. Ihr neuer junger Führer David Cameron hat sich zum neuen Strahlemann der britischen Politik gemausert. Das Klima hat sich gedreht.
Nun steht Blair ständig unter Druck, und seine Partei scheint die nächsten Wahlen schon verloren gegeben zu haben. Das Labour-Kabinett stolpert von einer Peinlichkeit zur anderen – zum Beispiel, wenn die Sekretärin des Vizepremiers über Geschlechtsverkehr mit ihrem Chef auf dessen Schreibtisch berichtet oder wenn beim G-8-Gipfel Blair vor offenem Mikrofon US-Präsident George Bush anbettelt, ihn doch bitte als Vermittler in den Nahen Osten zu schicken.
Und als Blair sein erstes Interview nach der Sommerpause dazu nutzte, einen baldigen Rücktritt erneut auszuschließen, provozierte er die größte parteinterne Revolte seiner Amtszeit, die Beobachter zu Vergleichen mit den fiebrigen letzten Amtswochen von Margaret Thatcher im Herbst 1990 verleiteten.
Blairs Ton hier war typisch für seine Geringschätzung der Welt um ihn herum. Auf die Frage, wann er denn die versprochene Machtübergabe an seinen Finanzminister Gordon Brown einleiten werde, antwortete er: „Ich glaube, ich habe genug gesagt, damit jeder vernünftige Mensch weiß, dass ich mein Bestes für das Land und die Partei tun werde, sodass wenn ich tatsächlich gehe, es in einer stabilen und vernünftigen und ordentlichen Art geschieht, aber dass ich bis dahin mich auf die Arbeit als Premierminister konzentriere.“ Anders gesagt: Leute, haltet die Klappe. Beim Interview ließ Blair sich mit einer Kaffeetasse fotografieren, auf der zu seinem Vornamen „Anthony“ folgende Charakterisierung stand: „Deine edle innere Stimme treibt deine Gedanken und Taten an. Du bist ein Mann, der führt; andere folgen dir. Du verfügst über Tiefe und hast einen leidenschaftlichen Geist. Andere halten dich für einflussreich, ethisch und gütig.“
Blairs Auftritt als Chefsatiriker in eigener Sache kam nicht gut an. Es gab Rücktritte in der Regierung und eine schriftliche Aufforderung aus der eigenen Fraktion, endlich den Weg freizumachen für eine neue Führung.
Der bedrängte Premier reagierte mit der Zusicherung, er werde im ersten Halbjahr 2007 abtreten – einige Quellen sprechen von einem Rücktritt als Parteichef im Mai, auf die eine Urwahl für seinen Nachfolger folgen werde, der dann im Juli das Amt des Premierministers übernehmen könnte. Natürlich sagte Blair das so nicht. Er sagte: „Es ist ziemlich klar, dass der Parteitag mein letzter als Parteichef sein wird. Aber ich werde jetzt kein genaues Datum festsetzen. Das ist meine Sache und muss richtig gemacht werden.“ Auch hier wieder die Unterstellung: Wenn ich das nicht selber mache, wird es nicht richtig gemacht.
Die parteiinterne Aufregung hat sich dadurch nicht wirklich gelegt. Aber sie richtet sich nicht mehr in erster Linie gegen Blair. Der hat es geschafft, schon Vergangenheit zu werden, ohne ein einziges Amt aufzugeben, immerhin eine taktische Meisterleistung. Der Partei geht es jetzt darum: Wer kommt nach Blair? Ist Finanzminister Gordon Brown der Richtige?
Brown und Blair sind Intimfeinde und Rivalen. 1994, nach dem plötzlichen Tod des damaligen Labour-Chefs John Smith, schien der seriöse und respektierte Brown der natürliche Nachfolger, aber dann machte er zugunsten des jungen telegenen Blair einen Rückzieher – mit dem Versprechen, später Blairs Nachfolger zu werden. Darauf wartet der ewige Finanzminister nun seitdem. Jüngere Labour-Politiker sehen jetzt aber nicht wirklich ein, warum eine informelle Absprache von vor 13 Jahren über die Zukunft des Landes entscheiden soll. Dies kommt Blair ganz gelegen, dessen Umfeld andauernd andere Namen ins Gespräch bringt: Bildungsminister Alan Johnson, Innenminister John Reid, Arbeitsminister John Hutton – lauter ehrbare Arbeitstiere, deren Loyalität nun belohnt werden soll.
Eigentlich sind sich Blair und Brown sehr ähnlich. Beide sind hundertprozentig vom eigenen Wert überzeugt, und beide erwecken den Eindruck, als würden sie am liebsten alleine regieren, ohne lästige Kabinette und Parlamente. Blair jedoch ist der Überflieger, Brown der Pfennigfuchser. Blair hat – oder hatte – den sicheren Instinkt für die Volksmeinung und das richtige Wort zur richtigen Zeit. Brown ist das brummelnde Schwergewicht in der Ecke, das immer Recht hat und die anderen mit seinem Fachwissen gleichzeitig überschattet und ignoriert. Die beiden brauchen einander, und Labour hat an der Regierung nur funktioniert, weil sie zusammenarbeiteten.
Die Blair-Brown-Partnerschaft ist nun demnächst vorbei, und Labour dürfte ihren Zerfall kaum als Regierungspartei überleben. Zwar hat Brown durchaus attraktive Ideen. Er will, streut er dieser Tage, endlich Großbritannien eine geschriebene Verfassung geben und Macht dezentralisieren: von London weg auf die lokale Ebene, von Ministerien weg an unabhängige Körperschaften: So wie die britische Zentralbank unabhängig ist, aber staatlich, so könnte auch das britische Gesundheitswesen NHS unabhängig werden, ohne privatisiert zu werden, sagt er. Die Erfahrung allerdings lehrt Skepsis. In der Vergangenheit hat Brown sein Finanzministerium als undurchsichtiges Großreich geführt, das Unsummen in private Beraterverträge und versteckte Teilprivatisierungen vornimmt, bei denen am Schluss keiner durchblickt außer er selbst.
Dass es aber überhaupt eine solche Debatte gibt, zeigt, wie stark sich die britische Politik bereits auf die Nach-Blair-Ära eingestellt hat. Vielleicht sucht Labour ja die Verjüngungskur in der Opposition. Sie wird diese Woche Blair ein letztes Mal zujubeln und ihn mit Tränen in den Augen verabschieden. Und irgendwann, wenn Labours nächster Premier gegen schlechte Wirtschafts- und Umfragedaten ankämpft und sich ohne außenpolitische Erfahrung mit Irak und Afghanistan herumschlägt, wird sie sich denken: Ach, es war doch eine schöne Zeit.