portrait : Luchs mit Fliege für die „Tigerrepublik“
Der neue Staatspräsident Estlands hat mit seinen Amtskollegen in Lettland und Litauen eines gemeinsam: Toomas Hendrik Ilves ist ein „Westbalte“. Mit Vaira Vike-Freiberga und Valdas Adamkas verbindet ihn die Exilvergangenheit in Nordamerika. Der Sohn estnischer Flüchtlinge wurde am 26. Dezember 1953 in Stockholm geboren. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte Ilves aber in den USA, bevor er 1993 in die selbständig gewordene Heimat seiner Familie zurückkehrte.
Das Etikett „Westbalte“ ist fast das einzig Negative, das man über Ilves – Estnisch für „Luchs“ – zu hören bekommt, wenn man Tallinner Passanten nach ihrer Meinung zum neuen Staatsoberhaupt fragt: So einer wie er könne doch nicht Estland repräsentieren. Dass man es „so einem“ mehrheitlich nun doch zutraut, kam unerwartet. Noch vor einigen Tagen galt der 78-jährige Amtsinhaber Arnold Rüütel als Favorit. Doch zeigen Meinungsumfragen, dass die Delegierten des Wahlgremiums durchaus in Übereinstimmung mit der Bevölkerungsmehrheit abstimmten. Rüütel hätten vor allem jene Bevölkerungsgruppen gern gesehen, die man zu den Verlierern des Prozesses zählen muss, den Estland vor 15 Jahren eingeschlagen hatte: ältere Menschen, Landwirte und Angehörige der russischen Minderheit.
„Luchs“ Ilves und die neoliberale Politik seiner sozialdemokratischen Partei hatten wesentlichen Anteil daran, Estland von der Sowjetrepublik zur Marktwirtschaft und zu einer „baltischen Tigerrepublik“ zu führen. Fünf Jahre lang war der eloquente und offenherzige Fliege-statt-Krawatte-Mann Außenminister und legte die Grundlagen für Estlands EU- und Nato-Mitgliedschaft. Und Ilves gilt auch als ein Kopf des Elektronik- und Telekom-Booms, der das Land an die Spitze der IT-Nationen brachte.
Der verheiratete Vater von drei Kindern, der in den USA Psychologie studierte, arbeitete seit 1984 zunächst als Researcher und dann als Leiter der estnischen Abteilung beim CIA-finanzierten US-Radiosender „Radio Free Europe“ in München. 1993 wurde er von Tallinn auf den Botschafterposten nach Washington berufen. Drei Jahre später war er Außenminister. Den besten, den Estland je hatte, wie angesichts seines unbestrittenen diplomatischen Geschicks nicht nur politische Freunde meinen. Seit 2004 ist Ilves Mitglied des Europaparlaments und Vizevorsitzender des auswärtigen Ausschusses.
Wenn er am 9. Oktober seinen Eid für das vorwiegend repräsentative Staatspräsidentenamt geleistet hat, wird es der Liebhaber mediterraner Küche jedenfalls nicht mehr so weit wie von Brüssel und Straßburg zu seinem idyllisch gelegenen Bauerngut Ärma haben.
REINHARD WOLFF