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Archiv-Artikel

Paragrafen für das Lebensende

Seit einem Jahr existiert der Verein Dignitate in Hannover. Der Ableger der Schweizer Dignitas will schwer kranken Menschen beim Sterben helfen. Der Deutsche Juristentag empfahl jetzt, die Strafandrohung für unterlassene Hilfeleistung bei Suizid abzuschaffen und Dignitate so die Arbeit zu erleichtern

Von JOHANNES HIMMELREICH

Darf man sterben wollen? Artikel Zwei des Grundgesetzes verbrieft die Handlungsfreiheit. „Wer das Sterben aus freiem Willen nicht zulässt, der handelt verfassungswidrig, ganz klar“, sagt Dieter Graefe, Sprecher des Vereins Dignitate, einem Ableger des Schweizer Vereins Dignitas. Heute vor einem Jahr begründete der umstrittene Verein seinen Sitz in Hannover. Wer sich freiwillig dafür entscheidet, sterben zu wollen und in der Lage ist, sich selbst Gift zu verabreichen, dem kann der Verein helfen – mit „assistiertem Suizid“ (siehe Kasten).

Dignitas hilft nach eigenen Angaben bei der Durchsetzung der Patientenverfügung gegenüber Ärzten und Kliniken, sowie bei Sterbevorbereitung, Sterbebegleitung und Freitodhilfe. Das deutsche Pendant darf sich auf Grund eines Rechtsstreits momentan nicht Dignitas nennen, steht aber für die gleichen Grundsätze. Rund 80 Euro kostet der Beitritt, der Jahresbeitrag beträgt rund 40 Euro – mindestens, die genaue Höhe bestimmt jedes Mitglied selbst. 900 Mitglieder hat der Verein in Deutschland. Zwischen 20 und 30 Mitglieder aus Deutschland haben die Dienste des Vereins im vergangenen Jahr in Anspruch genommen und sind zum Sterben in die Schweiz gefahren. In Deutschland dürfen Ärzte Medikamente für den assistierten Suizid nicht verschreiben, außerdem würde sich ein Arzt bei diesem Verfahren der unterlassenen Hilfeleistung strafbar machen – noch. Vergangene Woche empfahl der Deutsche Juristentag in einigen Punkten der Sterbehilfe Änderungen. Sterben könnte in Zukunft einfacher werden: Wer einen Tötungsversuch wissentlich nicht verhindert oder eine nachträgliche Rettung unterlässt, soll sich nicht mehr strafbar machen. Dieser Auffassung waren rund 90 Prozent der Stimmberechtigten beim Juristentag. Der Verein Dignitate begrüßt dieses Votum.

Gefahr droht dem Verein allerdings aus Berlin. Noch in diesem Frühjahr stritt sich die niedersächsische Regierungskoalition aus FDP und CDU darüber, ob man mit einer Gesetzesinitiative im Bundesrat ein grundsätzliches Verbot solcher Vereine anstreben solle. Oder ob sie nur illegal sein sollten, wenn sie gewinnorientiert handeln. Das Heft wurde den Niedersachsen inzwischen aus der Hand genommen, denn momentan wird in Berlin ein Vorschlag aus Hessen, Saarland und Thüringen verhandelt, der den assistierten Suizid verbieten will – ob gewinnorientiert oder nicht. Den Vorwurf, auf Gewinne aus zu sein, weist der Verein Dignitas weit von sich – auch in der Schweizer Heimat ist das nämlich verboten.

Eugen Brysch von der Deutschen Hospiz Stiftung kritisiert die Sterbehilfe-Initiativen: Für ihn ist eine gute Versorgung mit Palliativmedizin der springende Punkt. Das bedeutet die Linderung von Beschwerden bei Schwerstkranken, sowie die körperliche und seelische Begleitung bis zum natürlichen Tod. Wenn es eine flächendeckende Versorgung mit Palliativmedizin gäbe, so Brysch, würde kaum noch jemand zur Todesspritze greifen.

Aber davon ist Deutschland noch weit entfernt: Nur rund zwei Prozent der rund 820.000 jährlich Sterbenden erhielten eine umfassende palliative Versorgung, kritisiert Brysch. In Großbritannien und den skandinavischen Ländern liege dieser Anteil bei annähernd 40 Prozent. „Deutschland ist auf diesem Gebiet Entwicklungsland“, stimmt Graefe ihm zu.

Die niedersächsische Landesregierung scheint das erkannt zu haben: Im aktuellen Haushaltsentwurf für das Jahr 2007 sollen die Ausgaben für ein Netzwerk palliativer Beratungsstellen von den bisherigen 250.000 Euro auf 400.000 Euro erhöht werden.