: Sinnlose Schlachtschiffe
EUROKRISE Deutschland heute agiert ähnlich wie 1914: Statt zu vermitteln, erdrückt es seine Nachbarn
VON ULRIKE HERRMANN
Deutschland ist das mächtigste Land in Westeuropa. Diese Feststellung mag banal erscheinen, ist aber bemerkenswert. Denn Deutschland ist die einzige westeuropäische Macht, deren Status nicht viel anders ist als 1914. Es war und ist ein „Halbhegemon“. Zu klein, um eine Großmacht zu sein. Aber groß genug, um seine Nachbarn zu erdrücken.
Wie erstaunlich diese deutsche Kontinuität ist, zeigt ein Blick heute über die Grenzen: Das Habsburger Reich zerfiel nach 1914, Frankreich verlor an Einfluss, für Großbritannien begann mit dem Ersten Weltkrieg der Abstieg als Weltmacht. Deutschland hingegen ist nach 100 Jahren wieder die wichtigste Industrienation Europas.
Aus dieser Macht folgt eine besondere geopolitische Verantwortung. Doch es gehört zur Tragik der Deutschen, dass sie ihre Rolle oft nicht verstanden haben. In der Julikrise 1914 war diese Ignoranz offensichtlich: Das Kaiserreich hätte Mittler zwischen den Staaten sein müssen, stattdessen verfolgte es monoman eigene Interessen. Die Frage sei gestellt: Versagt Deutschland erneut – diesmal in der Eurokrise?
Zu den auffälligen Parallelen zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Eurokrise gehört, dass beide an der Peripherie begannen – und dann die Mitte Europas bedrohten. Der Erste Weltkrieg wurde ausgelöst, weil ein bosnischer Serbe den österreichischen Thronfolger in Sarajevo erschoss. Die Eurokrise offenbarte sich im Frühjahr 2010, als sich nicht mehr verheimlichen ließ, dass der griechische Staat bankrott war.
Noch heute beschäftigt es die Historiker, warum ein Mord in Bosnien einen Weltkrieg auslösen konnte – und kein regionaler Konflikt blieb. Ähnlich fragt man sich bei der Eurokrise: Wie gelang es Griechenland, ökonomisch so unwichtig wie Hessen, einen Kontinent ins Wanken zu bringen? Die Antwort fällt jeweils gleich aus: Die Krise in der europäischen Provinz eskalierte, weil die Beziehungen zwischen den zentralen Mächten in Europa gestört waren.
Es ist immer riskant, mit historischen Vergleichen zu argumentieren, weil sich – je nachdem – alles mit ihnen beweisen lässt. Aber die Parallelen zwischen Erstem Weltkrieg und Eurokrise sind so beunruhigend, dass die Frage lohnt, ob Deutschland zentrale Fehler wiederholt.
Die Botschaft kam nicht an
Das Kaiserreich hat vor dem Ersten Weltkrieg viele Fehlentscheidungen getroffen. Als besonders fatal erwies sich die Idee, die Marineflotte aufzurüsten, um mit den Briten auf den Weltmeeren zu konkurrieren. Dies war ein aggressiver Akt. Doch der zuständige Großadmiral Alfred von Tirpitz war überzeugt, er würde defensiv handeln. Wie der Politologe Herfried Münkler herausgearbeitet hat, wollte von Tirpitz die Schiffe nicht nutzen, um England anzugreifen – sie sollten die politische Verhandlungsposition des Kaiserreichs verbessern. Diese komplexe Botschaft haben die Engländer nicht verstanden. Sie sahen eine militärische Bedrohung – und reagierten, indem sie militärische Kriegsbündnisse schmiedeten.
Im Weltkrieg dann stellte sich heraus, dass die deutsche Flotte sinnlos war, weil die Engländer nur die Nordsee abriegeln mussten. Die Kriegsschiffe waren also doppelt teuer: Sie verursachten hohe Rüstungskosten – und provozierten einen Krieg, der für Deutschland nicht zu gewinnen war und Europa zerstörte.
Diesmal ist die gefährliche Waffe keine nutzlose Flotte – sondern ein nutzloser Exportüberschuss. Wie einst die Schlachtschiffe werden diese Exportüberschüsse in Deutschland nicht als aggressiv wahrgenommen, sondern als gutes Recht: „Wir müssen doch wettbewerbsfähig sein!“ Vielen Bundesbürgern entgeht, dass diese Wettbewerbsfähigkeit weitgehend künstlich ist, weil Deutschland die Reallöhne gesenkt hat. Und sie blenden aus, dass Exportüberschüsse nur möglich sind, wenn andere Länder Defizite anhäufen und sich bei Deutschland verschulden.
Wie einst bei der Flotte sehen die Verantwortlichen nicht, dass die Überschüsse doppelte Kosten verursachen. Erstens: Das Exportplus generiert nur scheinbar Einnahmen. Irgendwann müssen die Kredite ans Ausland abgeschrieben werden, weil die Defizitländer in die Pleite schlittern. Zweitens: Deutschlands aggressives Lohndumping ruiniert die Eurozone. Selbst Frankreich kann nicht mehr gegen Deutschland konkurrieren und gerät in die Rezession.
Der Erste Weltkrieg endete bitter für die Deutschen. Ihnen wurde die alleinige Kriegsschuld zugewiesen und eine Reparationslast von 132 Milliarden Goldmark aufgebürdet. Dieses Geld konnte Deutschland nicht aufbringen, weil sich ein logisches Problem auftat, das der Ökonom John Maynard Keynes damals sofort erkannt hatte: Um die Reparationen zu zahlen, hätte Deutschland exorbitante Exportüberschüsse erwirtschaften müssen. Doch Frankreich und England waren nicht bereit, ihre Märkte von deutschen Waren fluten zu lassen. Dies hätte ja Arbeitsplätze gekostet. Die Alternative war ein finanzieller Kreisverkehr: Die Deutschen nahmen Kredite bei den Alliierten auf, um mit diesem Geld die Reparationen zu bedienen. Am Ende zahlten also die USA die deutschen Reparationen, wie ihnen verspätet selbst auffiel.
Verlorene Kredite
Die Deutschen haben die Reparationen zu Recht als ungerecht empfunden, aber nicht daraus gelernt. In der Eurokrise lässt sich nun wieder genau der gleiche finanzielle Kreisverkehr beobachten. Deutschland besteht darauf, dass die Krisenländer ihre Auslandsverschuldung abbauen, doch dafür müssten sie ihre Ausfuhren steigern. Da Deutschland jedoch darauf beharrt, europäischer Exportmeister zu bleiben, wird es die Kredite nie wiedersehen, die es den anderen Euroländern gewährt hat, damit sie die deutschen Waren kaufen können.
Zum Glück droht bei der Eurokrise keine militärische Auseinandersetzung. Die ökonomischen Folgen könnten aber ähnlich fatal sein wie nach 1919. Sollte der Euro auseinanderbrechen, droht eine schwere, weltweite Wirtschaftskrise. Allein für Deutschland werden die Kosten eines Euro-Crashs auf bis zu 2 Billionen Euro geschätzt, was 80 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung entspricht.
Die Lektion der Weltkriege war, dass der Nationalismus überwunden werden muss und ein geeintes Europa entstehen soll. Die Eurokrise dreht diesen Prozess nun um: Armut und Arbeitslosigkeit lassen in vielen Euroländern den Nationalismus wieder aufblühen. Kanzlerin Merkel hat recht, wenn sie sagt: „Wenn der Euro scheitert, scheitert die EU.“ Nur leider folgt nichts aus ihrer Erkenntnis, dass ein Rückfall in den Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts droht.