: Selbstbildnis in der sechsten Stunde
Jahrelang gab es Streit um das Pflichtfach Ethik. Vor allem die Kirchen haben erbittert dagegen gekämpft – der freiwillige Religionsunterricht werde darunter leiden. Nun steht der Ethikunterricht in diesem Schuljahr erstmals auf dem Stundenplan der Siebtklässler. Doch was macht man da eigentlich?
VON TORSTEN GELLNER
Das ist schon harte Kost, was Herr Winkler seinen Schülern um diese Uhrzeit noch zumutet. Es ist schon kurz vor eins, sechste Stunde, noch dazu an einem Freitag, der mit verdammt viel Sonne ins Wochenende lockt. Und Herr Winkler stellt der Klasse 7.3 der Moabiter Heinrich-von-Kleist-Schule Fragen, an denen sich schon weitaus größere Köpfe die Zähne ausgebissen haben: Wer bin ich? Bin ich noch ich selbst, wenn jeder auf der Welt glauben würde, dass ich jemand anderes bin? Sind meine abgeschnittenen Haare noch ein Teil von mir? Und was ist mit meinen Eltern, sind die ein Teil von mir? „Nein, sind sie eigentlich nicht“, meint Onur, der damit sofort den Widerspruch von Zainab provoziert: „Doch, meine Eltern sind ein Teil von mir“, sagt die Zwölfjährige und klopft sich energisch auf die Brust. „Die sind hier in meinem Herzen drin.“
So geht es zu im Fach, um das so lange und heftig gestritten wurde: der Ethikunterricht. Seit Beginn des neuen Schuljahres werden die 24.000 Siebtklässler an Berlins Schulen „bekenntnisfrei und religiös neutral“, wie es im Rahmenplan heißt, unterrichtet. Bis zum Jahr 2010 soll Ethik dann für die gesamte Mittelstufe auf dem Stundenplan stehen. Dafür gibt es momentan rund 480 Ethik-Lehrer. Sie haben entweder eine zweijährige Weiterbildung hinter sich, sind Religionslehrer mit einer Art Ethik-Upgrade oder haben das Fach bereits in anderen Bundesländern gelehrt. Oder sie sind Philosophielehrer wie Ulrich Winkler, einer der fünf Ethik-Lehrer am Heinrich-von-Kleist-Gymnasium. Der 57-Jährige hat an seiner Schule jahrelang den Modellversuch Ethik/Philosophie betreut und kann nun von dieser Erfahrung profitieren. „Für die neuen Kollegen bedeutet Ethik einerseits eine große Freiheit, andererseits aber auch eine große Verunsicherung“, schätzt Winkler. Man laufe schnell Gefahr, die Siebtklässler mit allzu abstrakten Gedanken zu überfordern.
Wenn das Bein einschläft
Auf die Mischung komme es an, meint der Pädagoge: „Man muss in dieser Altersstufe viel mit konkreten Beispielen aus dem Alltag arbeiten“, sagt Winkler. „Aber es muss auch immer reflexive Phasen geben, in denen die Ergebnisse auf eine abstrakte Ebene gebracht werden.“
Das Fach ist gerade erst fünf Wochen alt und der Unterricht noch sehr anschaulich. Die Kinder sollen lernen, über ihren Körper und ihre Identität nachzudenken. „Wie ist das, wenn euer Bein einschläft?“, will Herr Winkler etwa wissen. Das kribbelt so, das fühlt sich voll cool an, das kann man nicht mehr richtig spüren, lauten die Antworten. Herr Winkler spielt mit seiner Brille wie früher Erich Böhme in seiner Fernseh-Talkshow. Winkler versucht den Dreh ins Abstrakte. „Gehört das Bein dann noch zu mir, wenn ich es nicht mehr spüren kann?“, fragt er. „Natürlich“, antwortet der zwölfjährige Mohammed und kippelt lässig auf seinem Stuhl, „sonst könnte ich es ja abschneiden und einfach wegwerfen.“ Die Fähigkeit zur Abstraktion sei noch recht unterschiedlich ausgeprägt, bemerkt Winkler nach der Stunde.
Die meisten Schüler konnten sich vor Schuljahresbeginn unter Ethik nicht viel vorstellen. „Wir wussten nur, dass wir ein neues Fach bekommen“, sagt etwa Berivan. Von dem langjährigen Streit, den es um das Fach gegeben hat, hat in der 7.3 keiner was mitbekommen. Vor allem die Kirchen haben erbittert gegen Ethik gekämpft, hatten zuletzt die Eltern dazu aufgerufen, ihre Kinder vom Ethikunterricht abzumelden. Sie fürchteten, dass deutlich weniger Schüler den freiwilligen Religionsunterricht zusätzlich zu Ethik besuchen würden. „Unsere Befürchtungen haben sich bestätigt“, sagt Kirchenschulrat Martin Spieckermann. „Nach einer ersten Kurzabfrage zeichnet sich ab, dass über ein Viertel weniger Siebtklässler Religion belegt hat.“
An der Heinrich-von-Kleist-Schule hat zwar niemand versucht, sein Kind von Ethik abzumelden. Aber die Religion leidet. De facto wird sie in der siebten Klasse nicht mehr unterrichtet. „Dramatische Abbrüche“ gebe es im Fach, sagt Schulrektor Joachim Hilgard. Zu Beginn des Schuljahres hätten sich nur fünf der 100 Siebtklässler für Religion angemeldet. Und die hätten wohl nicht alle gewusst, dass der Unterricht freiwillig und zusätzlich ist, mutmaßt Hilgard. Jetzt sei von den fünfen nur noch ein Mädchen übrig geblieben. Das wird aber keinen Religionsunterricht besuchen können. „Ein Lehrer darf eine Schülerin nicht alleine unterrichten“, sagt Jochen Hilgard.
Er sieht das neue Fach durchaus mit gemischten Gefühlen. Einerseits begrüßt er die Wertekunde. „Ethik kann ein Ort sein, um über Probleme des Alltags zu diskutieren und zu vermitteln“, sagt er. „Früher war eine solche Vermittlung Konsens in der Familie.“ Das sei heute nicht mehr der Fall. „Schule muss darauf reagieren. Wir können aber nur einen kleinen Beitrag leisten, dass manche Probleme nicht mehr so scharf auftreten.“
Die religiöse Story fehlt
Was Hilgard am neuen Fach fehlt, ist die religiöse Perspektive. „Es geht ein wichtiges Stück Kulturvermittlung verloren“, sagt er. „Renaissance-Malerei, Matthäus-Passion, Sixtinische Kapelle – all das kann ich doch ohne religiösen Backround nicht verstehen. Da fehlt mir quasi die Story.“ Ethik-Lehrer Winkler sieht das ähnlich. „Als Ethik-Lehrer kann ich solche Lücken nicht kompensieren. Ich bin weder Bibel- noch Islamexperte“, sagt er.
Bei der Senatsverwaltung für Bildung verweist man angesichts solcher Bedenken auf die im Gesetz verankerten Kooperationsmöglichkeiten zwischen Ethik- und Religionsunterricht. „Wir befürworten die Zusammenarbeit ausdrücklich“, sagt Sprecher Kenneth Frisse. „Wie das konkret aussehen kann, müssen die Schulen vor Ort regeln.“ Die evangelische Kirche bestätigt, dass man derzeit solche Kooperationen auslotet. Allerdings ist man laut Kirchenschulrat Spieckermann nur mit elf Schulen im Gespräch.
Den Schülern der 7.3 ist das egal. Sie sind eifrig bei der Sache. Wenn Herr Winkler nach eingeschlafenen Beinen oder abgeschnittenen Haaren fragt, schnellen fast alle Finger in die Höhe. „Das Interesse am Fach ist grundlegend vorhanden“, sagt der Ethik-Lehrer über die hohe Motivation seiner Schüler. „Sie wollen sich gegenüber anderen darstellen – daher ihr Interesse an Fragen wie: Wer bin ich?“
Irgendwann gegen Ende der sechsten Stunde lässt die Konzentration dann doch nach. Die Schüler rutschen auf ihren Stühlen hin und her, ihre Blicke schweifen auf den sonnigen Pausenhof, sie kippeln und tuscheln. Für die meisten von ihnen ist der Schultag aber noch nicht zu Ende. Die Siebtklässler an Berlins Gymnasien müssen jetzt bereits nach zwölf Jahren zum Abitur antreten, ihr Stundenpensum hat sich entsprechend erhöht. Da wird der Ethikunterricht, in dem man so viel diskutieren kann, als willkommene Abwechslung begrüßt. „Es ist schön, dass man hier über Menschen redet. Außerdem muss man nicht so viel denken wie in Mathe“, fasst der zwölfjährige Loay seine ersten Ethik-Stunden zusammen. Und Zainab geht die Sache noch entspannter an. „Das ist fast so wie ’ne Freistunde“, sagt sie und blickt sich schnell um, ob Herr Winkler das gehört hat.