: Gewalt, wohin man blickt
Worum geht es eigentlich? Um die Oper, die Mozart als seine beste empfand, und deren neues Ende
AUS BERLIN NIKLAUS HABLÜTZEL
Der Trojanische Krieg ist zu Ende. Idomeneo, einer der siegreichen griechischen Warlords, König von Kreta, fährt nach Hause. Ein Sturm kommt auf, Idomeneo verspricht dem Meergott Poseidon, in der Heimat den ersten Menschen zu opfern, den er antrifft, falls er dort ankommt. Die Bitte wird erhört, das Schiff zerschellt an der kretischen Küste, aber die Besatzung kann sich retten. Glücklich über die Heimkehr des Vaters, eilt ihm allen voran sein Sohn Idamante entgegen: Das ist der Plot, zu dem Mozart 1780 seine erste große Oper schrieb, ein Auftragswerk für den Karneval in München, wo sie 1781 unter seiner Leitung uraufgeführt wurde. Aus gutem Grund hielt er sie zeitlebens für seine beste, denn es ging ihm um weit mehr als die Wiederbelebung eines bekannten, bereits von anderen vertonten Stoffes der Antike. Es ging ihm um die Befreiung aus den ästhetischen Konventionen des Barock, aber auch um die Befreiung des Individuums, das ein uneingeschränktes Recht auf sein eigenes Gefühl hat, über alle religiösen und politischen Vorurteile hinaus.
Aber ebendieses Stück darf nun nicht mehr auf dem Spielplan der Deutschen Oper von Berlin stehen. Es könnte in der Inszenierung von Hans Neuenfels aus dem Jahr 2003 die religiösen Gefühle von Islamisten verletzen, hat die Intendanz am Montag erklären lassen. Schlimmer lässt sich die Krise, in der dieses einst renommierte Haus steckt, nicht mehr beschreiben.
Offenbar weiß die Intendantin Kirsten Harms, die vom Stadttheater Kiel nach Berlin kam, nicht, was sie tut. Opern sind immer Verhandlungen über die heutige Gegenwart. Nur deswegen lohnt es sich überhaupt, Mozart aufzuführen. In Kreta nämlich, so die Handlung seines „Idomeneo“, hatte sich in Abwesenheit des Königs ein nicht nur privates, sondern sehr wohl auch politisches Liebesdrama eingefädelt. Vom fernen Troja hatte der Kriegsherr schon mal eine Ladung Gefangener auf seine Heimatinsel vorausgeschickt, darunter Ilia, die Tochter des Troerkönigs Priamos. Mit einer bis heute ergreifenden Klage über ihr Schicksal beginnt Mozarts Musik. Idamante hat sich in die Schöne verliebt, aber noch glaubt sie nicht daran, dass ein bloßes Gefühl das Elend des Krieges überwinden kann. Idamante jedoch meint es ernst und lässt die trojanischen Gefangenen frei. Aber auch Elektra, die Tochter des Griechen Agamemnon, möchte den Königssohn haben. Sie ist nach ihrer Beihilfe zum Ehrenmord an ihrer Mutter von ihrer Heimatinsel Argos hierher geflüchtet. Rasend vor Wut wirft sie nun Idamante vor, Kreta den Feinden aus Troja zu überlassen. Politisch wie religiös begründete Gewalt also, wohin man blickt, denn nun muss ja Idomeneo den begehrten Sohn dem Poseidon opfern. Er versucht es mit einem diplomatischen Ausweg und will Elektra mit Idamante zusammen nach Argos verschiffen. Aber der Trick schlägt fehl, weil Poseidon ein Seeungeheuer losschickt, das die Flotte vernichtet. Selbstmörderisch will Idamante gegen das göttliche Monster antreten – da endlich gibt auch Ilia nach. In einem der schönsten Duette der ganzen Operngeschichte gestehen sich die beiden ihre Liebe über den Tod hinaus. Idamante besiegt das Monster, aber nun verlangt der Gott erst recht sein Opfer. Der Sohn will sich selbst töten, um dem Vater die Tat zu ersparen.
So weit die Tragödie, die Mozarts mäßig begabter Textdichter nach einer französischen Vorlage zurechtgeschustert hat. Es ist der musikalische Aufbruch in die Zeit der Aufklärung, die für Mozart vor allem das Recht der Person gegen den Staat und die Kirche war. Doch auf dem Höhepunkt der Tragödie kehrt die Konvention der Zeit zurück. Sogar Poseidon, der archaische Schreckensgott, ist gerührt über dieses Liebespaar: eine Bassstimme aus dem Off verkündet seinen Verzicht auf das Menschenopfer. Idomeneo, Ilia und Idamante sind frei – verloren hat nur Elektra, die sich verzweifelt selbst ersticht.
Die Oper endet mit einem Jubelchor zur Krönung des Idamante zum neuen König von Kreta. Aber schon zu Mozarts Lebzeiten ist dieser Schluss als unbefriedigend empfunden worden. Tatsächlich passt er nicht so recht zum Wüten der Götter und des Kriegs – auch musikalisch sind die Gewichte anders gesetzt. „Idomeneo“ ist ein Werk des Übergangs, und man hat das Finale wohl oder übel als Verbeugung vor dem damaligen Zeitgeschmack hingenommen – Mozart wollte so schrecklich gerne eine Stelle am Hof von München haben.
Er bekam sie nicht, obwohl die Uraufführung des „Idomeneo“ ein Erfolg war. Hans Neuenfels stellt in Berlin einen eigenen Kommentar an den Schluss. Nachdem der letzte Ton verklungen ist, tritt Idomeneo noch einmal auf die Bühne, einen blutigen Sack auf den Schultern. Hohnlachend holt er die abgeschlagenen Köpfe von Poseidon, Christus, Mohammed und Buddha heraus und stellt sie auf vier Stühle, die am Bühnenrand stehen. Es gab, neben Applaus, auch Buhgeschrei. Mag sein, dass auch religiöse Gefühle verletzt waren. Aber das Nachspiel trifft den Kern von Mozarts Anliegen. Frei sind die geschundenen, modernen Seelen im Kostüm einer antiken Sage erst, wenn die Götzenbilder fallen. Sie müssen es selber tun, wer sonst? Hinter Kants Formel der selbst verschuldeten Unmündigkeit führt kein Weg zurück. Der eigenhändig vollzogene Göttermord ist die Bedingung der Aufklärung. Dafür, und nur dafür, hat Neuenfels ein präzises theatralisches Symbol gefunden. Der lachende Idomeneo mit seinen Köpfen der Religionsstifter ist Mozart – und wir selber sind es auch, jedenfalls dann, wenn wir mit Mozart uns selbst ernst nehmen.
Man kann ihn anders verstehen als Neuenfels, aber in jedem Fall ist seine Botschaft universell. Seine Musik ist kein Gedudel, sie stellt immer die Frage an ihre Hörer, wie sie es denn halten mit ihren Gefühlen und ihrem Glauben, ganz gleich ob sie Muslime, Christen, Buddhisten oder auch Atheisten sind. Die Gefahr für „das Haus und das Publikum“, von der Kirsten Harms in ihrer Erklärung spricht, geht nicht von Terroristen und Fanatikern aus, die sich zweifellos zu Unrecht auf den Koran berufen. Sie geht von Leuten aus, die glauben, wir könnten es uns erlauben, unsere eigene Geschichte vom Spielplan zu nehmen. Wir müssen sie immer wieder neu erzählen, natürlich auch den Fundamentalisten jeden Glaubens, wie sonst könnten wir dem Terror, gegen den schon Mozart anschrieb, jemals standhalten. Es muss nicht in der Oper sein, aber wo denn sonst, wenn nicht einmal dort?