: Indiens Korridor nach Tibet
Sikkim ist immer noch militärisch bewachte Grenzregion. Das Land mit dem dritthöchsten Berg der Welt, dem Kanchenjunga, bietet uralte tibetische Kultur und atemberaubende Landschaften. Ein Reiseziel für Abenteurer ohne Höhenangst
Von Martin Benninghoff
Bevor der Panzer zu sehen ist, hört man schon sein Getöse. Als das Ungetüm dann um die Ecke biegt, tut es das schnell. So schnell, dass zwei Straßenarbeiterinnen sich nur durch einen gewagten Sprung in Richtung Bergwand in Sicherheit bringen können. Auf ihrem Rücken trägt jede einen Säugling, der – mit Tüchern fest umwickelt – beim Springen mitwippt. Empört gucken beide dem Monstrum hinterher: wieder neue Löcher in der Straße, die sie mit Händen und Spaten flicken müssen.
Es ist die einzige Straße hier oben im Norden von Sikkim. Der kleinste Bundesstaat Indiens ist etwa doppelt so groß wie Luxemburg, aber mit einer halben Million Einwohnern dünn besiedelt. Würde man die Soldaten mitrechnen, wäre die Zahl größer, denn alle paar Kilometer liegen Militärcamps ober- und unterhalb der matschigen Straße. Wellblechbaracken, die sich mit ihren braungrünen Anstrichen in die Landschaft einfügen. So auch in Thangu, das 4.000 Meter hoch liegt und nur wenige Kilometer von der Grenze nach Tibet entfernt. „Nicht fotografieren!“ und „Unsere Soldaten geben ihr Leben für uns. Lasst uns ihr Blut rächen!“ steht auf den Schildern, welche die indische Regierung hier in den felsigen Boden gerammt hat. Selbst in den Sommermonaten ist es tagsüber in dieser kargen und kalten Gegend kurz unterhalb der Himalaja-Gletscher knapp über null Grad. Wenn der Schnee im November kommt, sinkt die Temperatur meist tief in die Minusgrade.
Sikkim, das bis vor wenigen Jahren für Ausländer tabu war, öffnet sich dem Tourismus. Es hat viel zu bieten: Trotz der Öffnung benötigen Touristen immer noch das „Sikkim-Permit“, eine Reisegenehmigung, die nunmehr problemlos zu bekommen ist. Wer allerdings ins Hinterland nahe der tibetischen Grenze will – etwa zu den grimmigen Soldaten von Thangu –, braucht eine weitere Genehmigung, die nur der Gruppenreisende bekommt. Kein Eintritt für Individualreisende.
Die Unberührtheit hat vor allem mit der Grenzlage zu tun, die Sikkim zu einem Frontstaat im regionalen Kalten Krieg macht: China erkennt Sikkim nicht so recht als Teil Indiens an, und Indien erkennt Tibet nicht als Teil Chinas an. Dabei nähern sich die beiden früher so unversöhnlichen Großmachtkonkurrenten langsam an: Der von Thangu nicht weit entfernte Grenzübergang am Nathula-Pass ist erstmals seit 1962 wieder geöffnet. Die Straße an der ehemals hoch frequentierten Seidenhandelsroute ins tibetische Lhasa war nach dem indisch-chinesischen Grenzkrieg geschlossen worden. Anfang Juli dieses Jahres brummten nun die ersten Lkws seit über vierzig Jahren wieder über die Piste, die mit 4.600 Metern Höhe zu den höchsten Passstraßen der Welt gehört.
Ausgangspunkt für Jeep- oder Trekkingtouren in entlegene Gebiete ist die Hauptstadt Gangtok auf knapp 1.900 Metern Seehöhe. Gut 50.000 Menschen leben in dieser Stadt, die ihren Charme eingebüßt hat. Betonklötze und andere Bausünden kleben an den Hängen, stellen die Klöster und den alten Königspalast buchstäblich in ihre Schatten. Am oberen Ende der Stadt, die so unindisch wirkt, weil sie außerordentlich überschaubar und sauber ist, thront ein Funkturm, der seine Fühler bis nach Tibet ausstreckt. Auf der Flaniermeile im Ort reihen sich Modegeschäfte an Fast-Food-Läden, die Donuts und europäischen Filterkaffee verkaufen. Den traditionellen Sari tragen nur noch wenige Frauen, Jeans und T-Shirts sind hier genauso normal wie Rauchen auf offener Straße.Tomba, das traditionelle Bier aus fermentierter Hirse, wird nur noch auf Anfrage serviert: Der moderne Sikkimer trinkt King Fisher, ein indisches Bier, das in England gebraut wird.
Die zahlreichen Agenturen in der Stadt besorgen die Papiere für entlegene Gebiete und bieten Jeep-Touren und Trekkingwochen an – beides für 20 bis 30 Euro am Tag, inklusive Verpflegung, Auto, Führer und Unterkunft. Was professionell klingt, ist oft äußerst einfach und originell: Fahrer, die nur wenig Englisch sprechen, und Führer, die sich nur per Handzeichen verständigen können, gehören dazu.
Vishnu arbeitet als Führerin in der Trekkingagentur ihres Mannes. Die 26-Jährige spricht nur die Landessprache der Sikkimer und dazu ein paar Worte Englisch. Gerade ist sie mit einer kleinen Reisegruppe von Europäern in Thangu unterwegs. Nur wenn ihr Mann nicht in der Nähe ist, ergreift die junge Frau das Wort: „German good, British good, American good … Kalkutta not good“, sagt sie und schimpft in ihrer Sprache weiter auf die westbengalischen Touristen aus der Oberschicht Kalkuttas. Nachts um drei wollten die heißes Wasser haben. Dann stehe sie auf, empört sich Vishnu, und setze den Kessel aufs Feuer. Auf ein „Dankeschön“ aber warte sie meist vergeblich, das indische Kastensystem sei eben unerbittlich. Die Nacht verbringt die Gruppe mit ihrer Führerin unweit des Militärcamps. Die Straße vor der Herberge im skandinavischen Holzbaustil ist voller Blutegel, den Kühen, die im Schlamm stehen, haben sie sich tief ins Fleisch gebohrt.
Von Thangu sind es nur wenige hundert Meter bis zu einem fruchtbaren Hochtal auf 4.200 Metern Höhe. Hier oben wohnt der tibetische Flüchtling Zigmee mit seiner Frau in einer Holzhütte. Ein Feuer, einige Scheite Holz, ein Wasserkessel – mehr passt außer den beiden in die windschiefe Hütte nicht hinein. Zigmee hat rote Wangen und verfilztes Haar, seine Kleidung ist von der Arbeit draußen auf den Weiden schmutzig, seine Haut vom Wetter gegerbt. Er gießt heißen Tee in eine Tasse, Tee mit etwas ranziger Yakbutter. Stark gesalzen und eine Herausforderung für den europäischen Gaumen.
Nur wenige Monate im Jahr kann er hier oben wohnen. Wenn im November der Schnee kommt, wird es bitterkalt, und er zieht ins tiefere Tal, wo seine Eltern leben. Das Verhältnis zwischen Militär und den wenigen Yak-Hirten hier oben sei „medium“, sagt er und lächelt etwas gequält. „Aber wenn das Militär nicht wäre, hätten wir die Chinesen hier.“ Er erinnert sich nur zu gut an den Horror, den die Horden Mao Tse-tungs im Nachbarstaat Tibet seinerzeit verbreitet haben. China annektierte Tibet 1951, acht Jahre später kam es zu einem Volksaufstand, den Maos Truppen dazu nutzten, mordend und plündernd durchs Land zu ziehen – auch viele Mönche kamen um und Klöster wurden zerstört. Zigmee verehrt den Dalai Lama, im Gegensatz zu den Menschen in Tibet darf er das in Sikkim auch laut tun.
Noch mehr als 200 alte tibetische Klöster gibt es in Sikkim. Der kleine Mönch Dzongten lebt seit einem Jahr in dem von Phodong, hoch über der matschigen Straße von Gangtok nach Thangu. Das Kloster besteht aus einem schlichten quadratischen Haupttempel in der Mitte des Platzes, darum herum stehen die Wohn- und Wirtschaftsgebäude der Mönche. In der Schule, deren eine Seite zum Tempelplatz hin offen ist, rezitieren Dzongten und seine kleinen, kahl geschorenen Mitmönche sieben, acht Stunden am Tag buddhistische Verse. Dabei beugen sie ihre in rote Gewänder gehüllten Oberkörper vor und zurück, vor und zurück und vor und zurück. Wann immer der Lehrer den Blick von ihnen abwendet, machen sie Quatsch wie alle Schüler auf der Welt: Papierschnipsel werfen und den Nebenmann zwicken. Dzongten erklärt, dass er in diesen zwei Klosterjahren kein weltliches Fach lernt, keine Fremdsprache, keine Geschichte und keine Mathematik. Das müsse so sein, ergänzt sein Lehrer, um Sikkims Traditionen gegen die Einflüsse von außen zu schützen, die auch von den Touristen ins Land getragen werden.
Touristen dürfen sich bis zum Kloster Phodong in Eigenregie bewegen, also ohne zusätzliche Genehmigung. Am Rande des Tempelplatzes steht seit kurzem sogar ein Gästehaus, in dem sie unterkommen können (im Tourist Office in Gangtok fragen). Wer Abgeschiedenheit sucht, ist hier richtig: Nur wenige Kilometer hinter Dzongtens Schule und der klösterlichen Stille beginnt die militärisch-frostige Ruhe eines eingefrorenen Grenzkonflikts, der langsam auftaut.