„Fiktionale Erzählweisen halten Einzug“

DOKUMENTARFILM Ein Gespräch mit dem Leiter des Leipziger Dokumentarfilmfestivals, Claas Danielsen

■ geb. 1966, studierte Dokumentarfilm in München. Er realisierte sieben Filme und baute als Studienleiter von 1999 bis 2004 die europäische Fortbildungsinitiative für Dokumentarfilmer Discovery Campus auf.Seit 2004 ist er Direktor und Geschäftsführer des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, auf dem noch bis zum 24. Oktober 346 Filme aus 58 Ländern zu sehen sein werden.

INTERVIEW DETLEF KUHLBRODT

taz: Herr Danielsen, war der Beginn für Sie hier in Leipzig eigentlich schwierig?

Claas Danielsen: Anfangs bin ich von vielen sehr kritisch beäugt worden. Ich hatte ja vorher den Discovery Campus geleitet. Und die dachten, jetzt kommt so ein Typ, der vom Discovery Channel, einem kommerziellen amerikanischen Spartenkanal, gesponsert wurde, und übernimmt unser Festival und macht ein Fernsehfestival draus.

Und dann haben Sie auch noch Picassos heilige Taube geschlachtet, die so lange Symbol des Festivals war.

Da war die Empörung groß. Für viele Menschen war die ja ein Identifikationssymbol. Sie stand fürs Fenster zur Welt, das hier einmal im Jahr aufging. Es war eigentlich Blasphemie, diese hehre Friedenstaube vom Sockel zu holen. Aber das Festival wurde ja auch politisch gegängelt, die Stasi hatte auch eine Rolle gespielt, und ich wollte einen Schnitt machen, obwohl ich die Tradition des Festivals ehre.

Es gibt eine große Konkurrenz zwischen den Festivals.

Weil es nur eine beschränkte Zahl an wirklich herausragenden Filmen in jedem Jahr gibt. Und jedes Festival wünscht sich, die Erstaufführung zu bekommen. 2004 haben wir uns aber entschieden, diesen ganzen Konkurrenzkram nicht mehr mitzumachen, und verlangen für unseren Wettbewerb eine nationale Premiere und nicht mehr. Für den normalen Zuschauer sind Uraufführungen ja unerheblich. Aber wir müssen auch an unsere 1.400 Fachbesucher denken. Wenn die die meisten Filme schon kennen, lohnt sich der Besuch ja nicht mehr so sehr.

Mit welchen Festivals konkurriert Leipzig vor allem?

Die größte Überschneidung haben wir mit dem Festival in Amsterdam. Das ist das größte Dokumentarfilmfestival weltweit. Wir sind das zweitgrößte in Europa. Die sind in einer stärkeren Position, haben dreimal so viel Geld und verlangen Welturaufführungen und internationale Premieren. Die Berlinale ist auch ein Konkurrent. Viele Produzenten und Filmemacher warten lieber und hoffen, dass ihr Film in Berlin läuft, weil es mehr Prestige hat.

Inzwischen hat ja jede Autobahnabfahrt ein Filmfestival …

Man staunt schon, aber die meisten Festivals unterscheiden sich sehr nach Genres und nach Zielgruppe.

Im vergangenen Jahr haben Sie in Ihrer Eröffnungsrede das Fernehen hart kritisiert.

Bis jetzt ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen immer der wichtigste Partner für Dokumentarfilmer gewesen. Die Beteiligungen sind aber rückläufig. Die haben zwar einen großen Programmbedarf und gründen immer mehr kleine, digitale Sender, das hat aber dazu geführt, dass sie für das Gleiche mehr Rechte haben wollen. Und durch ihre monopolistische Stellung sitzen die Sender oft am längeren Hebel. Da muss man gegensteuern, auch im Interesse der Sender. Die haben ja nichts davon, wenn die Filmemacher und Produzenten pleitegehen.

Außerdem sind viele Sendeplätze formatiert. Die Filme müssen eine festgelegte Länge haben, da muss nach dreißig Sekunden spätestens der Kommentar losgehen, um das Publikum zu binden. Das führt dazu, dass die besonderen Filme, die für ein Festival attraktiv sind, zwischen die Stühle dieser ganzen Sendeplätze fallen und es für Filmemacher sehr schwer geworden ist, solche Filme zu realisieren. Die spannendsten Filme kommen inzwischen oft von Filmhochschülern, die aber nach zwei, drei Jahren oft verschwunden sind, weil sie keine Möglichkeit haben, kontinuierlich zu arbeiten. Deswegen denken wir darüber nach, einen Fonds zu gründen, mit dem wir die Projekte, die bei den Sendern zwischen die Stühle fallen, unterstützen wollen.

Wolfgang Vietze, der Direktor des MDR, war letztes Jahr richtig sauer nach Ihrer Rede.

Und dann gab’s ja auch noch die Vorführung einer Produktion des MDR im Rahmen des Festivals, die ganz schrecklich war, weil der Projektor ausfiel. Da saß der Fernsehdirektor mit ganz vielen Honoratioren des Senders drin und die Vorführung musste abgebrochen werden. (lacht) Aber jetzt ist eigentlich alles wieder in Ordnung. Der MDR hat in diesem Jahr sogar einen Film im Internationalen Wettbewerb. (kurze Pause) Aber der ist nicht deswegen im Wettbewerb, sondern weil es ein hervorragender Film ist.

Sie haben auch kritisiert, dass selbst bei Arte so viel synchronisiert wird …

Ja. Man nimmt den Menschen durch die Synchronisation ihre Stimme, und ich finde es schade, dass ein Sender wie Arte nicht den Mut findet, zu sagen, dann haben wir eben 0,1 % weniger Einschaltquote, aber für uns ist Sprache was ganz Essenzielles.

Kann man eigentlich mit gutem Gewissen von Trends im Dokumentarfilm reden?

Ein Trend ist wohl, dass die Genregrenzen durchlässiger geworden sind. Dass fiktionale Erzählweisen in den Dokumentarfilm Einzug gehalten haben, dass immer mehr Dokumentarfilmer mit Animationselementen arbeiten. Früher gab es ja immer dies Klischee vom deprimierenden, grauen und schwierigen Dokumentarfilm. Das ist, glaube ich, anders geworden. Und dann ist die Dokumentarfilmkultur zum Glück noch in einigen Ländern sehr speziell. In Polen und Finnland etwa. Und dann gibt es Länder, wo man plötzlich ganz wenig oder gar keine Filme mehr erhält, wie den Iran.