: „Zwang bleibt immer eine Gratwanderung“
Stefan Romberg, Liberaler und Psychotherapeut, über das „Entscheidungsdilemma“ von Ärzten und Politik
taz: Herr Romberg, das System Psychiatrie tötet Patienten. Stimmen Sie zu?
Stefan Romberg: Das ist zu einfach. Es sterben tatsächlich Menschen in der Psychiatrie. Es kann sogar passieren, dass sich ein Patient in der Klinik das Leben nimmt. Selbstmordgedanken sind ein häufiger Behandlungsgrund. Dass es dann auch mal zum worst case kommt, liegt wohl in der Natur der Sache.
Aber auch in der Verantwortung der Psychiatrie. Vor allem, wenn der Patient nicht freiwillig dort ist.
Für eine Zwangseinweisung gibt es eine rechtliche Grundlage. Sogar eine ziemlich strenge: Nur wer sich selbst oder andere gefährdet, darf nach Psychisch-Kranken-Gesetz zwangseingewiesen werden. Die Entscheidung ist immer eine Gratwanderung. Hat man sich gegen eine Zwangseinweisung entschieden und es passiert etwas, liegt das auch in der Verantwortung der Psychiatrie.
Wenn jemand einen gesetzlichen Betreuer hat, reicht schon „sein Wohl“ für eine Einweisung.
An dieser Stelle muss das Betreuungsrecht dringend überarbeitet werden. Trotzdem lässt sich das Entscheidungsdilemma der Ärzte durch Gesetze nicht lösen.
In Psychiatrien, die aus Prinzip auf geschlossene Stationen verzichten, gibt es weniger Zwangseinweisungen.
Offene Psychiatrie ist eine Geisteshaltung, die man nicht verordnen kann. Wir können sie aber immer wieder als positives Beispiel anführen.
Die Landesregierung verspricht, die Zwangseinweisungen zu reduzieren. Wie?
Vor allem durch Aufklärung. Psychische Erkrankungen sind immer noch ein gesellschaftliches Stigma. Eine Depression ist peinlicher als ein Magengeschwür und bleibt deshalb eher unbehandelt. Das liegt auch daran, dass psychisch Kranke in Spezialkrankenhäusern behandelt werden, statt zusammen mit anderen Kranken in einer Allgemeinklinik. Das erhöht die Hemmschwelle, sich behandeln zu lassen und schürt sowieso vorhandene Vorurteile über Psychiatrie.
Vorurteile wie...
Psychopharmaka machen abhängig und sind sowieso ganz schrecklich. Aus Angst vor ihnen bleiben Krankheiten unbehandelt, die durch sie verschwinden können.
Dann ist ein Gedenktag für Psychiatrie-Tote gar nicht in Ihrem Sinne?
Er trägt auf jeden Fall nicht dazu bei, psychischen Krankheiten den Schrecken zu nehmen.
INTERVIEW: MIRIAM BUNJES